Mama nahm ein Papiertuch aus ihrer Tasche und fing an, Jadrans Wangen zu säubern. Er stand still wie ein kleines Kind, obwohl er sie um eineinhalb Köpfe überragte.
»Ab jetzt bleibst du bei uns und gehst nicht mehr einfach ins Wasser«, sagte Mama.
Ie-ju! , klang es plötzlich aus einem Gebüsch ein Stück weiter. Jadran stieß Mamas Hand weg. Das Taschentuch fiel auf den Boden und wurde ins Schilf geweht.
»Was ist das?«, fragte er.
Ie ie ie-ju!
Yasmin ging als Erste den piepsenden Lauten nach. Dabei hob sie die Füße weit hoch, damit ihre Sneakers nicht schmutzig wurden. Und wir ließen sie natürlich nicht allein gehen.
Mama rief: »Gerade eben sage ich noch, du sollst bei uns bleiben, Riese!«
Aber da waren wir schon losgerannt.
Die schrillen Laute kamen aus einem Haselstrauch. Ich schob die Zweige auseinander, damit wir näher herankamen, ohne uns die Kleider zu zerreißen. Im Laub wurde ein Vogel mit schmalem Körper und aufgesperrtem Schnabel sichtbar. Es war ein junger Kranich. Sein Gefieder war noch bräunlich und der Hals nicht so schön schwarz-weiß gestreift wie bei den älteren Tieren.
»Er hat Angst«, flüsterte ich.
Jadrans Oberkörper bebte vor Aufregung. »Sie haben ihn vergessen!«
»Schaut mal, er kann nicht weg«, sagte Yasmin.
Ich ging neben dem Vogel in die Hocke. Er trat nach mir, traf aber nicht. Ein Flügel hatte sich in einer Angelschnur verfangen.
»Er blutet!«, rief Jadran.
»Ach je«, sagte Yasmin.
Murad kam uns zu Hilfe. Er zeigte mir, wie ich den Kranich festhalten musste. Dann packte er mit der einen Hand dessen Beine und löste mit der anderen die Schnur. Unter dem linken Flügel war der Flaum blutverschmiert.
»Da steckt ein Angelhaken drin«, stellte Murad fest.
Ich hob mit der Hand den Flügel hoch, damit Murad den Haken aus der Wunde ziehen konnte. Blitzschnell pickte der junge Vogel nach mir.
»Au!« Yasmin zuckte zurück, als hätte er ihre Hand erwischt. Murad wickelte die Schnur auf und steckte sie zusammen mit dem Haken in seine Jackentasche. An seiner feinen Stoffhose klebte Blut und an den Schuhen Moos.
Einen Moment verharrte der Kranich still. Dann rappelte er sich auf und hüpfte aus dem Gebüsch. Mit einem Mal wirkte er riesengroß. Aufrecht stehend, reichte er mir bis zum Kinn. Leicht verdutzt trippelte er am Ufer entlang. Aber es waren keine anderen Kraniche mehr zu sehen. Da fing er so laut zu kreischen an, dass es in den Ohren wehtat.
Jadran machte eine ernste Miene. »Er ruft nach seiner Familie, oder?«
»Sie kommen bestimmt wieder und suchen nach ihm«, meinte Murad. »Tiere lassen ihre Jungen nicht einfach im Stich.«
Eine halbe Stunde standen wir da und schauten. Es begann schon zu dämmern, und der See erglühte im rostfarbenen Abendlicht. Aber die Kraniche kamen nicht wieder.
Jadran ahmte die Hüpfer des jungen Kranichs nach. Und wenn dieser die Flügel zu heben versuchte, machte Jadran auch das nach: Er streckte einen Arm aus und ließ den anderen schlaff hängen.
Trrrrrie! , machte der Vogel, als hätte er die Trillerpfeife eines Schiedsrichters verschluckt. Tri ri ri rie!
»Tirie!«, gluckste Jadran. »Tirie! So heißt er!«
Mama biss sich auf die Lippe. Wer Jadran kannte, wusste, was es bedeutete, wenn er etwas einen Namen gegeben hatte: Dieses Etwas hatte von da an einen festen Platz in seinem Kopf, und war es erst einmal drin, ging es nie wieder heraus. Jadran hüpfte hin und her und flatterte mit einem Arm. »Sein Flügel ist kaputt, oder?«
»Wir müssen einen Förster anrufen«, sagte ich schnell. »Der weiß bestimmt, was zu tun ist.«
Murad wischte mit einem Taschentuch von Mama an seinen Schuhen herum.
»Das scheint mir auch das Beste zu sein«, sagte er. »Schließlich ist es ja ein Wildtier.«
Jadran hatte keine Angst vor Wildtieren. Noch ehe jemand etwas sagen konnte, tanzte er mit großen Schritten auf Tirie zu.
Mama verlor ihren letzten Rest Munterkeit. Jadran hatte uns die vergangenen Wochen schon genug Sorgen bereitet.
»Ich kümmere mich um ihn!«, rief Jadran und begann, wie ein Hund hinter dem Vogel herzuschleichen.
»Lass ihn!«, rief ich.
Aber Jadran hatte schon die Arme ausgebreitet und trieb Tirie in die Enge, auf den Steg zu. Mit dem Fuß blockierte er den Fluchtweg und packte den Vogel dann von hinten. Der wiederum ließ sich einfach fangen.
Jadran fasste unter seinen Bauch und hob ihn hoch. Er streichelte den Vogelrücken, ordnete die Federn und knickte behutsam die Beine ein.
»Ganz ruhig, Tirie«, flüsterte er. »Ich nehm dich mit nach Hause.«
Der Wind hatte aufgefrischt. Er fuhr in die Haselsträucher und trieb über den Bäumen dunkle Wolken zusammen.
Mama und Murad berieten sich noch, was zu tun sei.
»Ich geh jetzt.« Yasmin sagte es halb zu ihrem Telefon, halb zu uns und steuerte auf den Waldweg zu.
Jadran drückte Tirie an seine Brust.
»Nicht so fest, Riese, sonst erstickt er«, sagte Mama.
»Er bleibt bei mir!«, rief Jadran. Eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke. Tief genug, um mir klarzumachen, dass wir den Vogel nicht einfach hierlassen konnten.
»Im Dunkeln dauert es nicht lange, bis ein Fuchs ihn schnappt«, sagte ich.
»Eine Bekannte von Murad ist Tierärztin«, sagte Mama. »Da bringen wir ihn hin.«
Murad nickte ermutigend.
Das also war der Plan.
Aber Jadran passte in keinen Plan. Er rührte sich nicht mehr von der Stelle. Seine Lippen wurden schmal. Und seine Brust hob und senkte sich heftig.
»Nicht!« Ich hielt mir die Ohren zu.
Jadran riss den Mund weit auf und kniff die Augen zu. Als er loslegte, duckte Tirie sich zusammen. Mama schaute rasch nach links und rechts. Aber zum Glück war sonst niemand am Ufer.
»Na gut, nimm ihn mit«, sagte sie rasch.
Jadran machte ein Auge auf. Und brüllte nur noch halb so laut.
»Aber morgen früh …«
Jadran wischte sich mit dem Ärmel Rotz vom Gesicht. Er streichelte Tirie, wiegte ihn wie ein Riesenbaby und ging dann an Yasmin vorbei in den Wald.
Schon nach wenigen Metern hatte er vergessen, dass gerade eben um ein Haar die Welt untergegangen wäre.
Ein junger Kranich passt nicht in einen Wäschekorb. Und auch nicht in den größten Umzugskarton. Mama wollte Tirie nicht im Bad oder auf dem Flur haben. Zu fünft war es in unserer Wohnung ohnehin schon eng genug.
Also musste Tirie auf den Balkon.
Wir breiteten Zeitungspapier auf dem Boden aus. Murad nahm unsere Socken vom Wäscheständer, klappte ihn zusammen und stellte ihn auf die Brüstung, wo er ihn mit einem Stück Wäscheleine festband. So bildete er eine Art Gitter, damit Tirie nicht vom siebten Stock herunterfallen konnte.
Jadran suchte nach etwas zu fressen für den Vogel, während wir uns um seine Verletzung kümmerten. Murad hob den Flügel hoch, ich schob den Flaum auseinander, und Mama besprühte die Stelle, wo der Angelhaken gesteckt hatte, mit Desinfektionslösung. Die Wunde blutete nicht mehr, und Murad meinte, sie sei nicht so schlimm, dass sie genäht werden müsste.
Jadran hatte die Kruste von einem Fischstäbchen gepult und schnitt es in kleine Stücke. Er füllte eine Plastikschüssel mit Wasser und trug alles auf den Balkon.
Wir ließen Tirie los.
Erst rannte er wie wild gegen die Brüstung an, um sich danach auf der Decke, die wir in einer Ecke bereitgelegt hatten, zusammenzukauern.
Eine ganze Weile standen wir am Fenster und beobachteten ihn. Mama und Murad viel zu eng aneinandergeschmiegt.
Jadran nahm meine Hand und drückte sie jedes Mal, wenn Tirie auch nur die kleinste Bewegung machte.
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