»Morgen hat er alles zugeschissen«, nörgelte Yasmin. »Und mit dem Wäscheständer vor der Nase ist es wie im Gefängnis.«
Dann verschwand sie in Jadrans Zimmer, das seit dem Umzug ihres war, und machte die Tür hinter sich zu. Sie musste dringend sein Poster mit den sieben Zwergen abhängen.
Die Straßen leerten sich. Bei den Geschäften wurden die Rollläden heruntergelassen, und langsam döste die Stadt ein. »Du musst etwas essen«, flüsterte Jadran. Er hatte die Balkontür ein Stück geöffnet und schob den Teller mit Fischhäppchen näher an den Vogel heran. »Mach schon. Ich hab für dich gekocht.«
Tirie schaute nicht einmal auf.
»Er ist böse auf mich.« Jadran trat gegen die Tür.
»Warum sollte er?«, fragte ich. »Du hast den Angelhaken doch nicht dort herumliegen lassen.«
Jadran schlug mit der Stirn an die Scheibe. »Ich hab seine Familie verjagt. Und jetzt ist er ganz allein!«
»Nicht ganz.«
Ich strich meinem Bruder über den Rücken.
Er bückte sich, nahm ein Stück Fischstäbchen und steckte es in den Mund.
Wir schliefen jetzt direkt nebeneinander. In mein Zimmer passten genau zwei Matratzen, ein Stuhl, über den wir unsere Kleider legen konnten, ein schmales Regal für meine Schulbücher und ein Schrank. Wenn Jadran im Schlaf mit dem Arm schlug, traf er mich ins Gesicht. Und er gab seltsame Geräusche von sich, eine Art Keuchen und Knurren. Wahrscheinlich träumte er lebhaft.
Trotzdem fand ich es schön, dass er bei mir war. Wenn ich allein schlief, bekam ich manchmal Albträume. Dann träumte mir, ich würde morgens aufstehen und alle Menschen wären von der Erde verschwunden.
»Du bist Jadrans Schutzengel«, hatte Mama zu mir gesagt, da war ich gerade acht. Ich machte damals meine erste Buchbesprechung für die Schule, und Jadran quälte sich noch mit seinen ungelenken Blockbuchstaben herum. »Wenn dein Bruder mal nicht zurechtkommt, musst du ihm helfen.«
»Jadran ist ein Riese«, sagte ich. »Wie kann ich ihm helfen?«
»Du bist auch ein Riese, Josh. Ein kleiner Riese, und zwar innerlich.«
»Jadran ist der Stärkste in der ganzen Gegend, er schlägt jeden beim Armdrücken, und ich …«
Da lächelte Mama nur und meinte, ich solle gut auf ihn aufpassen.
Ich rutschte noch näher zu Jadran und legte meinen Kopf auf seinen Bauch. Er sagte nichts, aber ich wusste, dass er wach war.
Wir machten eine Atembrücke. Wie jeden Abend, weil Jadran sonst nicht schlafen konnte. Erst gab ich das Tempo vor. Ich atmete tief ein, und er machte es nach.
Ein und aus. Brust und Bauch.
Pffff .
Sein Atem strich über mein Kinn.
Eigentlich war das Atemspiel Mamas Idee. Sie und Jadran hatten es schon gemacht, als ich noch ein Baby war. Ich lag zwischen ihnen im großen Bett. Sie versuchten, genauso schnell oder schmatzend oder seufzend zu atmen wie ich.
Zusammen atmen schafft eine Verbindung, sagte Mama, eine Verbindung, die weit über den einen Moment hinausgeht.
»Jetzt du, Riese.«
Jadran atmete stoßweise und zittrig. Und ich zitterte mit. Er ließ die Luft zwischen seinen Lippen brausen. Und ich brauste genauso laut. Aber schon bald wurde er viel zu schnell.
»So verlierst du mich noch«, flüsterte ich, »und dann ist die ganze Brücke kaputt.«
Jadran gab sich größte Mühe, wieder in einen gemeinsamen Rhythmus zu finden.
»Ein«, keuchte er. »Ein-ein-ein!«
Ich saugte so viel Luft in meine Lunge, dass sie fast platzte. Und dann klappte es endlich wieder. Mein Kopf wippte auf Jadrans Bauch auf und ab.
Fort war das kleine Zimmer, fort der Wohnblock und das nächtliche Gemurmel der Stadt. Es gab nur noch meinen Bruder und mich in dem herrlich großen Bett.
In der Nacht stand Jadran zweimal auf, um nachzusehen, ob Tirie noch da war. Er presste das Gesicht an die Balkontür und hauchte Atemwolken aufs Glas. Ich hatte ziemliche Mühe, ihn wieder ins Bett zu bekommen.
Am Morgen aß er seine Cornflakes auf dem Balkon. Dort sah es verheerend aus. Das Zeitungspapier war zerfetzt. Tirie hatte die Trinkschüssel umgestoßen, und an der Wand klebte meterhoch die Vogelkacke. Aber das alles störte Jadran nicht. Er kniete an der Tür, seine Frühstücksschale und den Löffel vor sich auf dem Boden. Der Kranich stand zitternd an der Brüstung.
»Lass ihn doch«, sagte ich. »Er hat Angst.«
»Er muss essen, sonst stirbt er.« Jadran schnippte mit dem Löffel ein Cornflake zu dem Vogel hin.
Tirie nahm es nicht. Aber er schaute zu uns her. Und das war immerhin ein Anfang.
Den ganzen Vormittag blieb Jadran auf dem Balkon. Mama versuchte gar nicht erst, ihn davon zu überzeugen, dass wir Tirie wegbringen müssten. So stand Jadran ihr wenigstens nicht im Weg herum.
»Na gut«, sagte sie und schlüpfte in ihren Mantel. »Der Kranich kann noch eine Nacht bleiben.« Sie fasste Murad unter, und die beiden zogen los, um Bettwäsche zu kaufen.
Ich schaute für Jadran im Internet nach: Kraniche sind Allesfresser. Wenn sie brüten, fressen sie vor allem Insekten, Würmer und Frösche, aber selten Fisch. Und beim Vogelzug scharren sie auf abgeernteten Feldern nach Resten von Weizen und Mais.
»Cornflakes sind Mais.« Jadran grinste. »Jetzt noch Würmer.« Wir zogen unsere Schuhe an. Jadran nahm einen Kochlöffel, und ich holte ein leeres Marmeladenglas aus dem Schrank.
Ich rannte durchs Treppenhaus nach unten. Jadran fuhr mit dem Lift. Was er eigentlich von Mama aus nicht allein durfte. Schon gar nicht, wenn wir wetteten, wer am schnellsten war. Aber weil sie nicht zu Hause war, machten wir es einfach. Ich schwang mich aufs Treppengeländer und rutschte das letzte Stück hinunter.
Jadran stand bereits im Eingangsflur und wartete auf mich, stolz wie ein Pfau.
Vor unserem Haus war ein Beet mit Kamelien. Sofort fing Jadran an, mit dem Kochlöffel darin zu graben. Erdklumpen flogen herum. Wir klaubten Asseln, Tausendfüßer und Regenwürmer aus dem welken Laub. Unter einer losen Gehwegplatte entdeckte Jadran jede Menge Käfer. Schon bald wimmelte es in unserem Glas von Tierchen.
Aber als wir wieder ins Haus wollten, war die Tür zu, und wir hatten keinen Schlüssel mitgenommen.
Jadran klingelte Sturm.
»Ja?«, knarzte es aus der Gegensprechanlage.
Über den Klingelknöpfen befand sich nicht nur ein Lautsprecher, sondern auch eine Kamera. So konnte Yasmin oben in der Wohnung auf einem kleinen Bildschirm sehen, wer vor der Tür stand.
»Wir können nicht rein!«, rief ich.
Jadran drückte seine Nase an die Kamera.
»Geh mal ein Stück zurück, dann kann ich euch besser sehen«, sagte Yasmin.
»Tirie hat Hunger.«
»Ihr seid dreckig.« Es klang nicht freundlich, und das war es auch nicht.
»Mach auf!« Ich versteckte meine schwarzen Finger hinter dem Rücken.
Jadran hielt stolz das Glas mit den wimmelnden Tierchen in die Höhe.
Das machte keinen Eindruck auf Yasmin. »Du hast deine Jacke verkehrt zugeknöpft«, sagte sie zu ihm.
Er ließ das Glas sinken und schaute auf seinen Bauch.
»Lass ihn!«, zischte ich. »Das ist doch jetzt nicht wichtig!«
»Und bei dir sind die Haare total zerzaust.«
Ich knöpfte Jadrans Jacke auf und wieder richtig zu. Dann fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar. »So besser?«
Yasmin lachte lauthals, wie über einen guten Witz. Es klickte, und die Haustür ließ sich öffnen.
Ich fand es grausig, lebende Würmer an Tirie zu verfüttern. Sie zappelten in seinem Schnabel. Einen Tausendfüßer biss er mittendurch, ehe er ihn auffraß. Jadran setzte einen Käfer mit glänzendem Schild auf seine Handfläche und ließ ihn dann vor Tirie auf den Boden taumeln. Kein Tierchen bekam die Chance zu entwischen.
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