Der Arzt hatte eine Krankenwärterin geschickt; sie saß am Fenster und schlummerte.
Duroy begann auch schläfrig zu werden, als er plötzlich das Gefühl hatte, dass etwas geschehen müsste. Er öffnete die Augen gerade noch früh genug, um zu sehen, wie Forestier die seinen wie zwei erlöschende Lichter schloss, ein kurzes Schlucken bewegte die Kehle des Sterbenden, und in den Mundwinkeln wurden zwei Blutfäden sichtbar, die dann langsam auf das Hemd herabtropften. Die Hände hörten mit ihrer schrecklichen Bewegung auf. Er atmete nicht mehr.
Die Frau begriff, was geschehen war; sie stieß einen Schrei aus und warf sich schluchzend neben dem Bett auf die Knie. Georges machte vor Schreck und Entsetzen mechanisch das Zeichen des Kreuzes. Die Wärterin war erwacht und trat ans Bett heran.
»Es ist vorbei«, sagte sie.
Und Duroy, der seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatte, murmelte mit einem Seufzer der Erleichterung:
»Das hat nicht solange gedauert, wie ich dachte.«
Als die erste Bestürzung vorüber war und die ersten Tränen geflossen waren, beschäftigte man sich mit all den Schritten, die bei einem Todesfall erforderlich sind. Duroy wurde bis in die Nacht hinein in Anspruch genommen.
Als er heimkehrte, war er sehr hungrig. Frau Forestier aß auch ein wenig. Dann setzten sie sich beide in das Trauergemach, um an der Leiche zu wachen.
Zwei Kerzen brannten auf dem Nachttisch neben einer Schale, in der ein Büschel Mimosen schwamm, denn den üblichen Buchsbaumzweig hatte man nirgends auftreiben können.
Sie saßen jetzt allein, der junge Mann und die junge Frau neben ihm, der nicht mehr auf dieser Welt war. Sie sprachen kein Wort und betrachteten ihn nachdenklich.
Georges besonders, den die Finsternis um die Leiche beängstigte, konnte den Blick nicht von ihr wenden. Seine Augen und seine Gedanken wurden angezogen und fasziniert von diesem fleischlosen Gesicht, das in dem zitternden Lichtschein der Kerzen noch hohler erschien. Das war sein Freund Charles Forestier, der gestern noch mit ihm gesprochen hatte! Wie unbegreiflich und grauenvoll war doch das Ende eines menschlichen Wesens. Oh, jetzt dachte er an die Worte Norbert de Varennes, den die Furcht vor dem Tode so quälte: »Nie kehrt ein Mensch wieder. Millionen und Milliarden ähnlicher Wesen werden geboren, die auch Augen, Nase, Mund und Schädel mit einem Gehirn besitzen, aber nie kehrt derselbe Mensch zurück, der dort ausgestreckt im Bette liegt.
Ein paar Jahre lang hatte er gelebt, gegessen, gelacht, geliebt und gehofft, wie jeder andere. Und nun war es mit ihm zu Ende, zu Ende für immer. Was ist ein Menschenleben? Ein paar Tage und weiter nichts. Man kommt auf die Welt, man wächst heran, man wird glücklich, man wartet und dann stirbt man. Fahr wohl! Mann oder Weib, du kommst auf diese Erde nie wieder! Und doch trägt jeder in sich eine fieberhafte, unerfüllbare Sehnsucht nach Ewigkeit; und jeder ist ein kleines Weltall im großen Weltall, und versinkt doch so schnell in das ewige Nichts, um zum Nährboden für neu aufgehende Keime zu werden. Pflanzen, Tiere, Menschen, Sterne und Welten, alles lebt auf, dann stirbt es, um sich in etwas Neues zu verwandeln, und nie kehrt ein Wesen zurück; weder ein Wurm, noch ein Mensch, noch ein Planet!
Ein dumpfes, unendliches Grauen lastete vernichtend auf der Seele Duroys, der Schrecken vor dem grenzenlosen, unvermeidlichen Nichts, das unaufhörlich jedes kurzlebige und schwache Lebewesen zerstört. Und er beugte schon die Stirn vor dieser entsetzlichen dauernden Drohung. Er dachte an die Fliegen, die ein paar Stunden leben, an die Tiere, die Tage, an die Menschen, die ein paar Jahre, und an die Welten, die ein paar Jahrhunderte leben. Welcher Unterschied besteht zwischen ihnen? Ein paar Morgenröten mehr, weiter nichts!
Er wandte die Augen ab, um die Leiche nicht mehr sehen zu müssen.
Madame Forestier saß mit gesenktem Kopf da und schien ebenfalls in schmerzliche Gedanken versunken zu sein. Ihre blonden Haare über dem traurigen Gesicht sahen so schön und reizvoll aus, dass eine süße Empfindung, eine aufblühende Hoffnung das Herz des jungen Mannes berührte. Warum verzweifeln, wenn man noch so viele Jahre vor sich hatte?
Er betrachtete sie aufmerksam. Sie war von ihren Gedanken erfüllt und sah ihn nicht. Er sagte sich: »Das einzig Gute und Schöne im Leben ist: die Liebe! Ein geliebtes Weib in seinen Armen zu halten — das ist das höchste Menschenglück auf dieser Erde.«
Welches Glück hatte der Tote gehabt, dass er eine so kluge und reizende Kameradin gefunden hatte. Wie mochten sie sich wohl kennengelernt haben? Wie war sie dazu gekommen, einen so mittelmäßigen und armen Burschen zu heiraten? Wie war es ihr gelungen, etwas aus ihm zu machen?
Und er dachte über alle Geheimnisse nach, die im Menschenleben verborgen sind. Er erinnerte sich an alle Gerüchte über den Grafen de Vaudrec, der sie angeblich ausgestattet und verheiratet hatte. Was würde sie nun anfangen? Wen würde sie heiraten? Einen Abgeordneten, wie Madame de Marelle meinte, oder einen jungen Mann mit Zukunft, einen neuen verbesserten Forestier? Hatte sie bestimmte Hoffnungen, Pläne, Absichten? Wie gern hätte er das erfahren! Aber warum zerbrach er sich den Kopf über ihre Zukunft? Er dachte darüber nach und es wurde ihm klar, dass seine Beunruhigung aus jenen dunklen, verborgenen Gedanken kam, die man vor sich selbst geheimhält und dann entdeckt, wenn man tief ins Innerste seiner Seele eindringt. Ja. warum sollte er nicht versuchen, sie zu erobern? Wie stark und unüberwindlich würde er an ihrer Seite sein? Wie sicher und schnell würde er vorwärts kommen, und wie weit würde er es bringen? Und warum sollte es nicht gelingen? Er wusste ganz genau, dass er ihr gefiel, dass sie mehr für ihn empfand als bloß Sympathie, dass sie eine Neigung für ihn hegte, wie sie zwischen zwei gleichgearteten Naturen entsteht und ebensosehr auf einem gegenseitigen Gefallen wie auf einem geheimen Einvernehmen beruht. Sie kannte ihn als klug, zäh und entschlossen, sie konnte zu ihm Vertrauen haben.
Hatte sie ihn denn nicht in dieser so schweren Lage zu sich gerufen? Und warum gerade ihn? Lag darin nicht schon eine Art Wahl, eine Art Geständnis? Vielleicht sogar Entschluss? Wenn sie gerade an ihn in dem Augenblick dachte, wo sie Witwe werden sollte, hatte sie da nicht vielleicht auch gedacht, dass er ihr ein neuer Lebensgefährte und Bundesgenosse sein sollte?
Eine ungeduldige Neugier quälte ihn, er wollte sie befragen, ihre Absichten kennenlernen. Übermorgen würde er abreisen, denn er konnte nicht allein in einem Hause mit dieser Frau wohnen. Er musste sich beeilen, er musste noch vor seiner Rückkehr nach Paris ihre Absichten geschickt und feinfühlig ergründen, er durfte sie nicht zurückkehren lassen, damit sie nicht auf Drängen eines anderen nachgäbe und sich endgültig binde.
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