Er erschien kurze Zeit darauf mit dem Doktor Gavaut, der eine Arzenei verschrieb und ein paar Ratschläge erteilte. Als ihn Duroy hinausbegleitete und ihn nach seiner Meinung fragte, sagte er:
»Das ist der Todeskampf, Morgen früh ist er tot. Bereiten Sie die arme, junge Frau vor und lassen Sie einen Priester holen. Für mich ist hier nichts mehr zu tun, aber selbstverständlich stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«
Duroy ließ Frau Forestier rufen.
»Er wird sterben. Der Doktor rät, nach einem Priester zu schicken. Was wollen Sie tun?«
Sie konnte sich lange nicht entschließen. Dann sagte sie mit langsamer Stimme, nachdem sie sich alles überlegt hatte:
»Ja, es ist besser in mancher Hinsicht. … Ich werde ihn darauf vorbereiten und ihm sagen, dass der Pfarrer ihn sehen möchte … ich weiß noch nicht, irgend was. Also bitte seien Sie so freundlich und holen Sie mir einen Pfarrer. Aber suchen Sie ihn aus. Nehmen Sie einen, der nicht zu viel Mätzchen macht und sich mit der einfachen Beichte begnügt.«
Der junge Mann brachte einen liebenswürdigen, alten Geistlichen mit, der sich den Umständen anzupassen wusste. Er wurde sofort zu dem Sterbenden geführt. Frau Forestier ging hinaus und setzte sich mit Duroy in das Zimmer nebenan.
»Das hat ihn furchtbar ergriffen«, sagte sie. »Als ich vom Priester sprach, nahm sein Gesicht einen entsetzlichen Ausdruck an … als ob … als fühlte er den Hauch des … Sie verstehen mich … Er begriff, dass es zu Ende ging und dass seine Stunden gezählt seien …«
Sie war ganz blass.
»Ich werde den Ausdruck seines Gesichts nie vergessen«, fuhr sie fort. »Sicherlich hat er den Tod in diesem Augenblicke gesehen. Er hat ihn gesehen …«
Sie hörte die Stimme des Priesters; er sprach etwas laut, denn er war schwerhörig.
»Nein, nein, es steht gar nicht so schlimm mit Ihnen. Sie sind krank, Sie sind leidend, aber es droht Ihnen keine Gefahr. Und der Beweis ist, dass ich als Freund und Nachbar zu Ihnen komme.«
Was Forestier antwortete, konnten sie nicht hören. Der Priester fuhr fort:
»Ich will Ihnen nicht das Abendmahl reichen. Darüber wollen wir reden, wenn Sie sich besser fühlen. Wenn Sie aber meinen Besuch benutzen wollen, um zu beichten, so ist es mir recht. Ich bin ein Seelenhirt und benutze jede Gelegenheit, um meine Schafe zu retten.«
Es folgte ein langes Schweigen. Offenbar sprach Forestier mit seiner keuchenden, klanglosen Stimme. Plötzlich sagte der Priester in verändertem Ton, dem Ton einer gottesdienstlichen Handlung:
»Gottes Barmherzigkeit ist unendlich. Sprechen Sie das Confiteor, mein Sohn. Sie haben es vielleicht vergessen, ich will Ihnen helfen. Sprechen Sie mir nach: Confiteor Deo omnipotenti … Beatae Mariae semper virgini …«
Von Zeit zu Zeit machte er eine Pause, damit der Sterbende ihn einholen konnte. Dann sagte er:
»Nun beichten Sie.«
Die junge Frau und Duroy rührten sich nicht mehr.
Sie fühlten sich seltsam verwirrt und von einer ängstlichen Spannung ergriffen.
Der Kranke hatte etwas gemurmelt. Der Priester wiederholte :
»Sie haben sich der sündhaften Nachsicht sträflich gemacht? Welcher Art war sie, mein Sohn?«
Die junge Frau stand auf und sagte kurz :
»Wir wollen in den Garten gehen. Wir dürfen seine Geheimnisse nicht hören.«
Sie gingen und setzten sich auf eine Bank vor der Tür, unter einem blühenden Rosenstrauch, hinter einem Nelkenbeet, das seinen starken, süßen Duft ausströmte.
Nach einer minutenlangen Pause fragte Duroy:
»Wird es lange dauern, bis Sie nach Paris zurückkehren?«
»O nein,« antwortete sie, »sobald hier alles zu Ende ist, fahre ich zurück.«
»Etwa in zehn Tagen?«
»Ja, höchstens.«
»Hat er keine Verwandte?« fragte Duroy.
»Keine. Nur ein paar Vettern. Sein Vater und seine Mutter sind gestorben, als er noch ganz klein war.«
Sie schauten beide einem Schmetterling zu, der auf den Nelken seine Nahrung suchte; er flog von einer Blüte zur anderen und flatterte hastig mit den Flügeln, die sich jedoch langsam bewegten, wenn er auf einer Blume saß. Sie saßen und schwiegen eine lange Zeit. Der Diener kam und teilte mit, dass »der Herr Pfarrer fertig sei«. Sie gingen zusammen hinauf. Forestier schien seit gestern noch magerer geworden zu sein.
Der Priester reichte ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen, mein Sohn. Ich komme morgen früh.«
Und er ging fort.
Sobald er hinaus war, versuchte der Sterbende, der schwer röchelte, seine beiden Hände zu seiner Frau zu erheben und stotterte:
»Rette mich … Rette mich … Geliebte … ich will nicht sterben … ich will nicht sterben … Oh! Rettet mich … Sagt, was ich tun soll, holt den Arzt … Ich nehme alles ein, was er verschreibt … Ich will nicht … ich will nicht …«
Er weinte. Große Tränen rannen aus seinen Augen über die fleischlosen Backen, und die eingefallenen Falten seines Mundes verzogen sich wie die eines betrübten kleinen Kindes.
Und nun sanken seine Hände auf das Bett und bewegten sich hier fortwährend langsam und regelmäßig, als ob sie auf der Decke etwas suchten. Seine Frau begann nun auch zu weinen und stammelte:
»Aber nein, es ist doch nichts. Es ist ein Anfall, morgen geht es dir besser. Du bist sehr müde von der gestrigen Spazierfahrt.«
Forestier atmete so schnell wie ein Hund, der eben gelaufen ist. Die Atemzüge gingen so hastig, dass man sie kaum zählen konnte, und so leise, dass, man sie kaum vernehmen konnte. Er wiederholte immerfort:
»Ich will nicht sterben … Oh, mein Gott … mein Gott … was wird mit mir? Ich werde nichts mehr sehen? Ich werde nichts mehr sehen … nichts … Niemals … Oh, mein Gott …«
Er starrte vor sich hin und sah etwas, was für die anderen unsichtbar blieb, etwas Furchtbares, denn in seinen unbeweglichen Augen spiegelte sich das entsetzlichste Grauen wieder. Seine beiden Hände fuhren mit ihrer schrecklichen, ermüdenden Gebärde fort.
Plötzlich überfiel ihn ein furchtbarer Krampf, der seinen Körper von Kopf bis zu Fuß erbeben ließ. Er stammelte:
»Der Kirchhof … mich … mein Gott …«
Er sprach nichts mehr und blieb unbeweglich, verstört und röchelnd liegen.
Die Zeit verging; die Uhr eines nahegelegenen Klosters schlug zwölf. Duroy verließ das Zimmer, um etwas zu essen. Nach einer Stunde war er wieder da. Madame Forestier wollte nichts zu sich nehmen. Der Kranke hatte sich nicht gerührt. Er fuhr noch immer mit seinen mageren Fingern über die Bettdecke, als ob er sein Gesicht berühren wollte.
Die junge Frau saß in einem Lehnstuhl am Fuße des Bettes. Duroy nahm sich einen anderen und setzte sich neben sie; beide warteten schweigend.
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