Der Korb war nun leer; zu Zehnen war das allerdings kein großes Kunststück und man bedauerte, dass es nicht mehr gewesen war. Das Geplauder setzte sich noch eine Weile fort, wenn auch nicht mehr so lebhaft, als während des Essens.
Der Abend brach herein, die Dunkelheit nahm immer mehr zu und Fett-Kloss fühlte sich infolge der Kälte, die während der Verdauung immer fühlbarer ist, trotz ihrer Wohlbeleibtheit erschauern. Da bot ihr Madame de Bréville ihren Wärmapparat an, dessen Kohle im Laufe des Tages mehrfach erneuert waren; sie nahm ihn gern an, denn ihre Füsse waren eiskalt. Die Damen Carré-Lamadon und Loiseau gaben die ihrigen den beiden Ordensschwestern.
Der Kutscher hatte seine Laternen angezündet. Ihr helles Licht brach sich an einer Dampfwolke die über den Kruppen der schweißtriefenden Pferde schwebte und beleuchtete zu beiden Seiten des Wagens den Schnee, der bei den lebhaften Reflexen sich aufzurollen schien. Im Wagen konnte man schon nichts mehr unterscheiden; aber plötzlich entstand eine Bewegung zwischen Fett-Kloss und Cornudet. Loiseau glaubte in der Dämmerung zu bemerken, dass der Mann mit dem großen Barte sich etwas plötzlich zur Seite beugte, als habe er ohne viel Geräusch einen gutsitzenden Schlag erhalten.
Vorn auf der Strasse zeigten sich einzelne Lichter; es war Tôtes. Wenn man zu den elf Stunden Fahrt noch die drei Stunden Rast rechnete, die man den Pferden zu ihrem Futter gegönnt hatte, so waren die Reisenden vierzehn Stunden unterwegs gewesen. Endlich fuhr man durch das Stadttor und hielt vor dem Hôtel de Commerce an.
Die Türe wurde aufgerissen und ein wohlbekanntes Geräusch ließ alle Reisenden erzittern; eine Säbelscheide klirrte auf dem Boden. Man hörte einige deutsche Worte rufen.
Obschon am Haltepunkt angekommen, stieg keiner von den Reisenden aus; als ob sie erwartet hätten, da draussen sofort niedergesäbelt zu werden. Da erschien der Kutscher und leuchtete mit einer Laterne bis in den hintersten Eck des Wagens. Ihr Schein fiel auf zwei Reihen furchtstarrender Gesichter mit offenem Munde und ängstlich dreinschauender Augen.
Beim vollen Licht der Laterne sah man neben dem Kutscher einen deutschen Offizier, einen hochgewachsenen auffallend schlanken blonden jungen Mann, der in seiner Uniform wie in ein Korset eingezwängt war. Auf dem Kopfe trug er eine flache runde Mütze wie ein Laufbursche in den englischen Hôtels. Sein langer kerzengrader Schnurrbart wurde zum Schluss zu immer dünner, bis er fast nur noch aus einem blonden Haar bestand, dessen Ende man nicht mehr unterscheiden konnte. Er schien auf seiner Oberlippe aufgeklebt zu sein und drohte bei jeder Bewegung der Backenmuskel herunter zu fallen.
»Bitte auszusteigen, meine Herren und Damen,« forderte der Offizier in schlechtem Elsässer Französisch brüsk die Reisenden auf.
Die beiden Ordenschwestern folgten zuerst mit jener sanften Ergebenheit, die gottgeweihte Jungfrauen in allen Lebenslagen zeigen. Dann kamen der Graf und die Gräfin, gefolgt von dem Fabrikanten und seiner Frau, hierauf Loiseau mit seiner besseren Hälfte. »Guten Abend, mein Herr,« sagte der Weinhändler, mehr der Klugheit als der Höflichkeit folgend zu dem Offizier, während er den Fuss auf den Boden setzte. Jener, anmassend wie alle, in deren Händen die Gewalt liegt, sah ihn an, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.
Fett-Kloss und Cornudet, obwohl der Tür zunächst, stiegen doch als die letzten aus; sie trugen Angesichts des Feindes eine ernste hochfahrende Miene zur Schau. Die wohlbeleibte Donna suchte sich zu beherrschen und ruhig zu bleiben. Der Demokrat strich in theatralischer Weise mit etwas zitternder Hand seinen roten Schnurrbart. Sie suchten ihre Würde zu wahren, weil sie sich bewusst waren, dass bei solchen Begnügungen jeder einzelne das ganze Vaterland vertritt. Zudem ärgerte sie das höfliche Benehmen ihrer Reisegefährten. Fett-Kloss suchte daher stolzer aufzutreten als die vornehmen ehrbaren Damen, während in Cornudets Haltung sich der ganze Widerstands-Geist ausprägte, der mit der Aufwühlung der Strassen vor Rouen begonnen hatte.
Man trat in den geräumigen Flur des Hôtels und der Offizier ließ sich den Erlaubnisschein des kommandierenden Generals zeigen, auf dem der Name, der Stand und die Personalbeschreibung jedes einzelnen genau verzeichnet war. Nachdem er alle Anwesenden genau gemustert und ihr Äusseres mit der Beschreibung verglichen hatte sagte er kurz: »Es ist gut,« worauf er verschwand.
Man atmete erleichtert auf. Da der Hunger sich aufs neue geltend machte, so wurde noch ein Abendessen bestellt. Eine halbe Stunde musste man jedoch noch warten und die Reisenden musterten inzwischen die für sie bestimmten Zimmer. Sie lagen alle nebeneinander auf einem langen Gange an dessen Ende sich eine Glastüre mit einer allgemein bekannten Ziffer befand.
Als man sich endlich zu Tische setzte, erschien der Wirt selber, ein alter Pferdehändler, ein dicker kurzatmiger Mann, aus dessen Kehle fortgesetzt ein rasselnder zischender verschleimter Ton erklang. Sein Name war Follenvie.
»Ist Fräulein Eliesabeth Rousset hier?« fragte er.
»Das bin ich,« wandte sich Fett-Kloss erschreckt um.
»Der preussische Offizier möchte Sie sogleich sprechen, Fräulein.«
»Mich?«
»Jawohl, wenn Sie wirklich Fräulein Rousset sind.«
Einen Augenblick dachte sie unschlüssig nach, dann erklärte sie entschieden:
»Möglich, dass er mich sprechen will, aber ich werde nicht kommen.«
Es entstand eine Bewegung an der Tafel; man sprach über diesen Befehl und suchte seine Ursache zu ergründen. Der Graf näherte sich ihr.
»Sie tuen Unrecht Madame. Ihre Weigerung könnte fatale Schwierigkeiten hervorrufen, nicht nur für Sie, sondern für uns alle. Man muss dem Stärkeren immer nachgeben. Dieser Schritt kann keineswegs gefährlich sein. Es handelt sich jedenfalls um eine Formalität, die vergessen wurde.«
Alle übrigen vereinigten sich mit ihm, um sie zu bitten und sie zu drängen; schliesslich gelang es ihrer gemeinschaftlichen Überredung, sie zu überzeugen. Alle fürchteten die Verwicklungen, die aus ihrer Hartnäckigkeit entspringen könnten.
»Wenn ich es tue, so geschieht es sicherlich nur um Ihretwillen,« sagte sie endlich.
»Und wir danken Ihnen dafür,« entgegnete die Gräfin ihr die Hand reichend.
Sie ging hinaus und man wartete mit dem Essen auf sie. Ein jeder bedauerte im Herzen, nicht selbst statt dieses zornmütigen heftigen Mädchens herausgerufen zu sein und überlegte sich allerlei Liebenswürdigkeiten für den Fall, dass die Reihe an ihn käme.
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