Was sie jetzt am meisten empfand, das war die Vereinsamung ihres Gewissens inmitten all dieser gewissenlosen Menschen. Obschon sie mit einem Male gelernt hatte zu heucheln, die Gräfin mit offenen Armen und lächelndem Munde zu empfangen, so fühlte sie doch dies Gefühl der Leere, diese gewisse Menschenverachtung, stetig wachsen und sie sah sich ganz von ihm beherrscht. Täglich erhöhten die kleinen Neuigkeiten aus der Umgebung den Widerwillen ihres Herzens, ihren Abscheu gegen alle anderen Wesen.
Die Tochter der Couillards hatte ein Kind bekommen und die Hochzeit sollte jetzt erst stattfinden. Die Magd bei den Martins, eine Waise, war in andren Umständen; ein fünfzehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft ebenso. Eine Wittwe, eine arme knöcherige ekelhafte Frau, die man ihres schrecklichen Schmutzes wegen den »Pferdeapfel« nannte, fühlte sich gleichfalls Mutter.
Jeden Augenblick hörte man von einer neuen Schwangerschaft, oder dem Fehltritt irgend eines Mädchens, einer Frau und Mutter mehrerer Kinder, selbst sogar einer reichen angesehenen Pächtersfrau.
Dieser fruchtbare Frühling schien bei den Menschen den Saft nicht weniger wie bei den Pflanzen in Wallung zu bringen.
Johanna deren erloschene Sinne nicht mehr erregt wurden, deren zerrissenes Herz und deren weiches Gemüt allein von diesem lauen fruchtbaren Frühlingsodem unberührt blieben und die schwärmerisch ohne Verlangen und leidenschaftlich ohne Triebe lediglich ihren einsamen Träumen sich hingab, war erstaunt entsetzt, ja schliesslich hasserfüllt über diese tierische Schmutzerei.
Die Vereinigung zweier Wesen stiess sie jetzt ab, wie etwas widernatürliches. Und wenn sie sich über Gilberte ärgerte, so war es nicht, weil sie ihr den Gatten abspenstig gemacht hatte, sondern lediglich der Umstand, dass sie ebenfalls in diese allgemeine Schmutzgrube gesunken war.
Sie war doch von einer anderen Rasse, als die Landleute, bei denen die tierischen Instinkte vorwiegen. Wie hatte sie sich nur ebenso vergessen können, wie diese Bestien?
An dem Tage sogar, wo ihre Eltern eintreffen mussten, rief Julius abermals diesen Abscheu in ihr wach. Er erzählte ihr sehr vergnügt als neueste und scherzhafteste Geschichte, dass der Bäcker tags vorher, als gerade nicht gebacken wurde, ein eigentümliches Geräusch in der Backkammer vernommen hätte. In der Meinung, irgend eine herumstreichende Katze dort zu erwischen sei er hereingestürzt, und habe seine Frau betroffen, wie sie allerdings »gerade nicht beim Brotbacken war.«
»Der Bäcker« fügte er hinzu, »hatte die Tür verschlossen, sodass sie beinahe ersticken mussten. Der kleine Bäckerjunge hat es den Nachbarn erzählt; er hatte seine Mutter mit dem Schmied hereingehen sehen.«
»Sie geben uns Liebesbrot zu essen, diese Spaßvögel«; schloss Julius lachend. »Es ist wirklich wie eine Geschichte von La Fontaine.«
Johanna vermochte keinen Bissen Brot mehr anzurühren.
Als der Postwagen vor der Tür hielt und sich hinter den Fensterscheiben das vergnügte Gesicht des Barons zeigte, fühlte die junge Frau in ihrem Herzen eine tiefe Bewegung, eine so stürmische Zärtlichkeit, wie sie nie vorher empfunden zu haben glaubte.
Aber sie blieb überrascht, beinahe einer Ohnmacht nahe, stehen, als sie ihre Mutter aussteigen sah. Die Baronin war in diesen sechs Wintermonaten um wenigstens zehn Jahre gealtert. Ihre großen schlaffen Hängebacken waren purpurfarben geworden und strotzten von Blutandrang. Ihr Auge schien erloschen, und sie konnte sich nur noch bewegen, wenn man sie unter beiden Armen stützte. Ihr an sich schwerer Atem war keuchend geworden und wogte so heftig, dass man in ihrer Nähe unwillkürlich ein Gefühl schmerzhafter Verlegenheit empfand.
Der Baron, gewohnt sie täglich zu sehen, hatte von diesen Veränderungen wenig bemerkt. Wenn sie sich bei ihm über ihre stete Atemnot, über ihre wachsenden Beklemmungen beklagte, so antwortete er: »Aber im Gegenteil, liebes Kind; ich habe Dich nie anders gekannt.«
»Deine Mutter ist in schlechten Heften,« sagte Julius am Abende zu seiner Frau: »Ich fürchte es steht nicht gut mit ihr.«
Johanna brach in Schluchzen aus. »Nur ruhig! sagte Julius. »Ich behaupte ja nicht, dass sie verloren ist. Du musst immer gleich alles übertreiben. Sie hat sich sehr verändert, das ist alles. Es kommt von ihrem Alter.«
Nach acht Tagen hatte sie sich schon so an das neue Aussehen ihrer Mutter gewöhnt, dass sie nicht mehr daran dachte. Auch mochte sie wohl absichtlich ihre Befürchtungen zurückdrängen, wie man gewöhnlich aus Egoismus, aus einer Art unbewussten Dranges nach Ruhe düstere Vorahnungen und drohende Sorgen von sich abzuschütteln sucht.
Die Baronin, der das Gehen die grösste Schwierigkeit verursachte, begab sich jeden Tag höchstens noch eine halbe Stunde ins Freie. Wenn sie ein einziges Mal den Weg in »ihrer« Allee zurückgelegt hatte, konnte sie sich nicht mehr weiter bewegen und verlangte, sich auf »ihre« Bank zu setzen. Wenn sie sich unfähig fühlte, ihren Spaziergang zu Ende zu führen, sagte sie: »Wir wollen aufhören; meine Hypertrophie steckt mir heute in allen Gliedern.«
Sie lachte jetzt gar nicht mehr; sie lächelte höchstens noch über Dinge, bei denen sie sich das Jahr vorher noch vor Lachen geschüttelt hätte. Aber da ihre Augen noch sehr gut waren, so verbrachte sie ihre Tage mit der Lesung von »Corinne« oder Lamartine’s »Meditation«. Dann verlangte sie, dass man ihr die Schieblade mit ihren »Reliquien« bringe. Sie breitete die alten, ihrem Herzen so teuren Briefe auf ihrem Schoss aus, stellte die Schieblade auf einen Stuhl neben sich und legte ihre »Reliquien« eine nach der anderen wieder hinein, nachdem sie dieselben langsam durchgelesen hatte. Und wenn sie ganz für sich allein war, dann pflegte sie wohl den einen oder andren Brief zu küssen, wie man die Haare geliebter Toten küsst.
Einige Male fand Johanna, wenn sie plötzlich eintrat, die Baronin bitterlich weinend. »Was hast du, Mütterchen?« rief sie. »Das kommt von meinen Reliquien,« antwortete jene nach einem langen Seufzer. »Man denkt wieder an Sachen, die so herrlich waren, und die nun zu Ende sind! Und dann fallen einem da plötzlich Personen ein, an die man schon ewig nicht mehr gedacht hat. Man glaubt sie zu sehen und zu hören; das macht einen furchtbaren Eindruck. Du wirst das später auch noch kennen lernen.«
Als der Baron einmal bei einer solchen melancholischen Szene hinzukam, murmelte er: »Johanna, mein Kind; wenn Du mir folgen willst, so verbrenne Deine Briefe, alle Briefe, von Deiner Mutter, von mir, alle. Es gibt nichts Schrecklicheres, als die Nase wieder in die Jugendzeit zu stecken, wenn man alt geworden ist.« Aber Johanna bewahrte ebenfalls ihre Korrespondenz, richtete sich ihren »Reliquienschrein« ein, indem sie trotz aller sonstigen Verschiedenheit von ihrer Mutter, einem gewissen erblichen Triebe träumerischer Sentimentalität gehorchte.
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