Lange, endlos lange, träumte sie so fort, während der Mond das Ende seiner Bahn erreichte und langsam ins Meer unterzutauchen begann. Die Luft wurde frischer. Im Osten bleichte der Horizont. Rechts auf der Farm krähte ein Hahn; von der anderen Seite erhielt er Antwort. Durch die Wände des Stalles gedämpft schienen ihre Stimmen von sehr weit her zu kommen. An dem unermesslichen Himmelsdome, der sich immer mehr erhellte, verlöschten die Sterne.
Der Ruf eines Vogels erschallte. Ein Zwitschern, anfangs schwach und ängstlich, drang aus dem Gebüsch; dann wurde es lauter, zuversichtlicher freudiger, und endlich klang es jubelnd weiter von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch.
Johanna sah sich plötzlich von strahlender Helle umgeben; und als sie das Haupt hob, das bis da zwischen ihren Händen geruht hatte, schloss sie die Augen, geblendet vom Widerschein der Morgenröte.
Ein purpurfarbenes Wolkengebirge, zum Teil noch hinter der großen Pappel-Allee versteckt, warf blutigrote Lichtstreifen auf die wiedererwachte Erde.
Und langsam die Wolken teilend, die Bäume, die Wiesen, den Ozean, den ganzen Horizont endlich mit feurigem Lichte überflutend, ging der flammende Sonnenball auf.
Johanna war wie vom Glück berauscht.
Eine kindische Freude, eine zärtliche Bewunderung der herrlichen Natur durchdrang ihr Herz. Das war ihre Sonne, ihr Morgenrot! Der Anfang ihres Lebens! Das Erstehen ihrer Hoffnungen! Sie breitete ihre Arme gegen den Horizont aus, als wollte sie die Sonne umarmen; sie wollte sprechen, irgendetwas rufen, was ebenso erhaben war, wie dieser Anbruch des Tages. Aber sie blieb wortlos, wie gebannt in ohnmächtiger Begeisterung. Dann verhüllte sie ihr Antlitz mit den Händen, und Tränen, süsse Tränen quollen aus ihren Augen.
Als sie den Kopf wieder erhob, war der herrliche Anblick des anbrechenden Tages bereits wieder verschwunden. Sie fühlte sich beruhigt, etwas ermattet und fröstelte leicht. Ohne jedoch das Fenster zu schliessen, legte sie sich zu Bett, träumte noch einige Augenblicke und schlief dann so fest ein, dass sie um acht Uhr nicht einmal von der Stimme ihres Vaters erweckt wurde. Erst als dieser ins Zimmer trat, wachte sie auf.
Er wollte ihr die Verschönerungen des Schlosses, »ihres« Schlosses, zeigen.
Die Façade, welche nach dem Innern des Landes zu lag, war von dem Wege durch einen geräumigen, mit Obstbäumen bepflanzten Hof getrennt. Dieser Weg, der sogenannte Seitenweg, führte zwischen Bauernhäusern hindurch und erreichte eine halbe Meile weiter die große Strasse von Fecamp nach Havre. Eine schnurgerade Allee führte von dem hölzernen Gitter bis zur Rampe des Schlosses. Die Wirtschaftsgebäude, kleine Häuser aus Feldstein, lagen zu beiden Seiten des Hofes längs der Gräben, welche die zwei Pachthöfe voneinander trennten.
Man hatte die Dächer erneuert, alle Schäden ausgebessert, die Mauern geflickt, Zimmer neu tapeziert, das ganze Innere des Schlosses von oben bis unten frisch angestrichen. Das alte finstere Gebäude hatte an allen Fenstern weiße Blendladen erhalten, die von weitem wie große Flecken aussahen; die große graue Façade war frisch getüncht.
Von der anderen Seite aus, wohin auch ein Fenster von Johannas Zimmer ging, sah man über das Bosquet und die lebendige Mauer der geknickten Ulmen hinweg auf das Meer.
Johanna und der Baron gingen Arm in Arm und sahen sich alles an; auch der kleinste Winkel blieb nicht unbeachtet. Dann wandelten sie langsam in den langen Pappel-Alleen herum, die den sogenannten Park begrenzten. Überall breitete sich unter den Bäumen der üppig wuchernde Grasteppich aus. Johanna war entzückt, als sie jetzt die verschlungenen Pfade des dichtbelaubten Bosquets betraten. Ein plötzlich aufspringender Hase entlockte ihr unwillkürlich einen kleinen Schreckensschrei; dann aber schaute sie ihm belustigt nach, wie er in großen Sätzen durch das Riedgras der Hügelkette zueilte.
Nach dem Frühstück erklärte Madame Adelaïde, dass sie noch sehr erschöpft sei und sich noch ausruhen müsse. Der Baron schlug daher Johanna einen Spaziergang nach Yport vor.
Sie hatten bald das Dörfchen Etouvent erreicht, und die Landleute, die ihnen begegneten, grüssten sie wie alte Bekannte.
Jetzt betraten sie die Gehölze, welche sich, den Windungen eines langsam absteigenden Tales folgend, bis zur Küste hinziehen.
Nach kurzer Zeit waren sie bei Yport angelangt. Einige Frauen, die an der Türe ihrer Wohnungen sassen und Kleidungsstücke flickten, schauten ihnen neugierig nach. Längs der abwärts führenden Strasse floss ein kleiner Bach. Zahlreiche Schmutzhaufen bedeckten den Boden; sie strömten einen kräftigen Geruch aus, und die kleinen Wassertümpel, welche vor den Türen der rauchigen Häuser in der Sonne trockneten, vereinigten ihren Dunst mit dem, der aus dem Innern der dichtbewohnten Räume drang.
Einige Tauben suchten am Rande des Baches nach Nahrung.
Johanna betrachtete alles mit Neugier; es kam ihr vor wie die Dekoration eines Theaterstückes.
Plötzlich, als sie um eine Mauer herumkamen, lag das Meer vor ihr mit seinem ruhigen tiefen Blau soweit das Auge reichte.
Sie blieben stehen und betrachteten das entzückende Schauspiel. In der Ferne tauchten einige Segel auf, weiß wie die Flügel einer Möve. Rechts und links sah man die enormen Felsen der Küste. Auf der einen Seite wurde der Blick durch eine Art Vorgebirge gehemmt, während auf der anderen Seite die Küste sich endlos ausdehnte, bis man nur noch einen schmalen langen Streifen erblickte.
Ein Hafen und einige Häuser wurden in einer der nächsten Ausbuchtungen sichtbar; leichte kleine Wellen brachen sich am Gestade und umgaben das Meer mit einem schaumigen weißen Saume.
Fischerbarken ruhten seitwärts umgestülpt auf den runden Kieseln des Strandes; ihr mit grünlichem Moose bedeckter Kiel trocknete in der Sonne. Einige Fischer waren mit der Herrichtung für die Zeit der abendlichen Flut beschäftigt.
Einer derselben näherte sich ihnen und bot Fische zum Verkauf an. Johanna nahm eine Goldbutte, welche sie selbst nach Peuples zurückbringen wollte.
Der Mann bot ihnen dann noch seine Dienste für etwaige Bootsfahrten an, indem er wiederholt seinen Namen nannte, damit sie ihn ja nicht vergessen möchten:
»Lastique, Josephin Lastique.«
Der Baron versprach, an ihn zu denken.
Dann schlugen sie wieder den Weg zum Schlosse ein.
Da das Tragen des starken Fisches Johanna ermüdete, so schoben sie den Stock ihres Vaters durch seine Kiemen und fassten jeder ein Ende desselben an. Vergnügt und heiter plaudernd wie zwei Kinder stiegen sie den Weg nach Etouvent hinan. Der leichte Seewind umspielte ihre Stirnen, während der Fisch, an dem sie gehörig zu tragen hatten, mit seinem fetten Schwanze hin und her schwankte.
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