Der Baron sagte »die Hypertrophie meiner Frau« und Johanna sprach von »Mamas Hypertrophie«, wie wenn man von den Kleidern, Hüten oder dem Regenschirm der Baronin gesprochen hätte.
Sie war in ihrer Jugend sehr hübsch und schlanker wie ein Schilfrohr gewesen. Nachdem sie der Reihe nach mit allen Waffengattungen des Kaiserreiches getanzt hatte, las sie eines Tages »Corinne«, worüber sie zu Tränen gerührt wurde. Von da an stand sie ganz unter dem Einflusse dieses Romans.
In dem Masse wie ihre Taille an Umfang zunahm, wurde der Schwung ihrer Seele immer poetischer. Je mehr ihre Fettleibigkeit sie an das Polster fesselte, umso häufiger schwelgte ihre Fantasie in allerlei zärtlichen Abenteuern, deren Heldin sie war. Einige derselben wurden von ihr besonders bevorzugt und kehrten in ihren Träumereien öfters wieder, wie ein Musikstück, dessen Melodie einem unaufhörlich durch den Kopf summt. Alle die blumenreichen Romanzen, in denen von Gefangenen und Schwalben die Rede war, veranlassten sie unwillkürlich zu weicheren Regungen; selbst gewisse Lieder von Beranger liebte sie wegen des Schmerzes, der sich trotz aller Lustigkeit darin aussprach.
Stundenlang konnte sie so in ihren Träumereien verloren dasitzen; und der Aufenthalt in Peuples gefiel ihr deshalb ausserordentlich, weil er ihren romantischen Ideen, sowohl durch die Wälder der Umgegend, als auch durch die Heideflächen und namentlich durch die Nähe des Meeres, stets wieder die Werke Walter Scott’s ins Gedächtnis rief, mit denen sie sich seit einigen Monaten beschäftigte.
An Regentagen schloss sie sich in ihr Zimmer ein, um ihre sogenannten »Reliquien« durchzustöbern, nämlich die alten Briefe, die sie von ihren Eltern, von ihrem Manne als Bräutigam empfangen hatte, und ausserdem noch einige andere. Dieselben waren in einem Schreibtisch aus Mahagoni eingeschlossen, an dessen Ecken sich bronzene Sphynxfiguren befanden. Wenn Rosalie die Briefe holen sollte, so pflegte die Baronin mit eigentümlicher Betonung zu sagen: »Bring mir die Schieblade mit meinen Jugenderinnerungen, Kind!«
Die Zofe öffnete dann den Schreibtisch, nahm die Schieblade heraus und stellte sie auf einen Stuhl neben ihre Herrin, welche den Inhalt langsam Stück für Stück durchlas, wobei hin und wieder sich eine Träne aus ihrem Auge stahl.
Bei den Spaziergängen musste Johanna zuweilen Rosalie ersetzen und Mütterchen erzählte ihr dann von ihren Jugenderinnerungen. Das junge Mädchen fand sich selbst darin wieder; sie war erstaunt über die Ähnlichkeit ihrer Gedanken und die Gleichheit ihrer Wünsche. Bildet sich doch jedes Herz ein, allein vor allen anderen unter dem Eindruck jener Empfindungen geseufzt zu haben, unter dem schon die Herzen der ersten Menschen höher schlugen, und unter dem die Herzen der letzten Menschen und namentlich Frauen höher schlagen werden.
Ihr Spaziergang vollzog sich ebenso langsam wie die Erzählung, welche hin und wieder von Beklemmungen unterbrochen wurde. In solchen Pausen schweiften Johannas Gedanken der angefangenen Geschichte voraus; ihr Herz schwelgte in zukünftigen Freuden und Hoffnungen.
Eines Nachmittags, als sie auf der Bank am Eingang der Allee sassen, bemerkten sie plötzlich am Ende derselben die beleibte Gestalt eines Geistlichen, der auf sie zukam. Er grüsste schon von Weitem, nahm eine lächelnde Miene an, grüsste auf drei Schritt nochmals und rief ziemlich laut:
»Ah, die gnädige Frau Baronin! Wie geht es denn?« Es war der Dorfpfarrer.
Die Mama, die in der Zeit der Philosophen geboren und von einem ziemlich ungläubigen Vater während der Revolutionszeit erzogen war, besuchte die Kirche niemals, obschon sie die Geistlichkeit mit einer Art religiösem Instinkt der Frauen ganz gern hatte.
Sie hatte bis dahin ihren Pfarrer, den Abbé Picot, ganz vergessen und errötete jetzt unwillkürlich. Sie entschuldigte sich, dass sie seinem Besuche nicht zuvorgekommen sei, aber der gute Mann war durchaus nicht verletzt. Er sah Johanna an, grüsste sie mit freundlicher Miene, setzte sich, legte seinen Dreispitz auf die Knie und wischte sich die Stirn ab. Er war sehr stark, sehr rot und schwitzte sehr. Jeden Augenblick zog er ein mächtiges karriertes und schon ganz feuchtes Taschentuch hervor, mit dem er sich Gesicht und Nacken abwischte. Aber kaum hatte er es wieder in seine geräumige Tasche versenkt, als schon wieder neue Tropfen auf seiner Stirn standen und auf die hervorstehenden Teile seiner Soutane rannen, wo sie sich mit dem dort angesammelten Staube zu kleinen Flecken verbanden.
Er war heiter, gesprächig, nachsichtig; ein echter Landpriester. Er erzählte allerlei Geschichten, sprach von den Landleuten und ließ sich nicht im Geringsten merken, dass er seine beiden Pfarrkinder noch nicht in der Kirche gesehen hatte. Bei der Baronin schob er dies auf eine natürliche Folge ihrer verschwommenen religiösen Ideen; bei Johanna auf die ganz erklärliche Freude, dem Kloster entronnen zu sein, wo man sie in Andachtsübungen geradezu erstickt hatte.
Jetzt erschien auch der Baron, der als Pantheist sich den Dogmen gegenüber völlig indifferent verhielt. Er war sehr liebenswürdig gegen den Pfarrer, den er oberflächlich kannte, und lud ihn ein, zu Tisch zu bleiben.
Der Priester war einsichtig genug, in keiner Weise anzustossen. Er hatte durch seine langjährige Erfahrung als Seelenführer sich jene Zurückhaltung angeeignet, welche die anderen niemals unnötig fühlen lässt, dass man berufen ist, über sie einen besonderen Einfluss auszuüben.
Die Baronin verhätschelte ihn; vielleicht mochte sie sich unwillkürlich durch eine Art geistige Verwandtschaft zu ihm hingezogen fühlen. Das vollblütige Gesicht und der kurze Atem des Pfarrers erinnerte sie an ihr eigenes Leiden.
Beim Dessert hatte der liebenswürdige Mann alle Mühe, sich der Aufmerksamkeit zu erwehren, mit der die Baronin ihm immer wieder vorlegen ließ.
Plötzlich rief er wie jemand, dem eine glückliche Idee durch den Kopf schiesst:
»Denken Sie nur, ich habe ein neues Pfarrkind, das ich Ihnen notwendig vorstellen muss. Es ist der Herr Vicomte de Lamare.«
Die Baronin, welche den ganzen Adel der Provinz an den Fingern aufzählen konnte, fragte:
»Einer von den Lamare’s von Eure?«
»Zu dienen, Madame«; sagte der Priester, sich verbeugend, »der Sohn des letzthin verstorbenen Vicomte Johann de Lamare.«
Madame Adelaïde, die für den Adel überaus schwärmte, richtete nun eine Menge Fragen an ihn und erfuhr, dass der junge Mann, um die väterlichen Schulden zu bezahlen, sein Schloss verkauft und sich im Erdgeschoss eines der drei Pachthöfe, die er noch in der Gemeinde Etouvent besass, eingerichtet hatte. Seine Einkünfte betrugen alles in allem fünf bis sechs Tausend Francs. Aber der junge Mann war sehr vernünftig und sparsam. Er wollte zwei oder drei Jahre ganz einfach und bescheiden hier auf dem Lande wohnen und sich so viel zurücklegen, dass er dann, ohne Schulden zu machen oder seine Pachthöfe zu belasten, eine Rolle in der Welt spielen konnte. Das Endziel seiner Wünsche war natürlich eine vorteilhafte Heirat.
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