Es war so lau, dass man die Fenster herunterlassen konnte. Johanna, die mit offenen Augen sich glücklichen Träumen hingegeben hatte, machte sich’s jetzt auch bequemer. Nur zuweilen erwachte sie durch einen leichten Ruck des Wagens oder das veränderte Tempo der Pferde. Wenn sie dann auf einen Augenblick hinausschaute, bemerkte sie im Vorbeifahren hier eine Farm, dort ein paar Kühe, die behaglich wiederkäuend langsam den Kopf nach dem Wagen umwandten. Hierauf suchte sie in einer neuen Lage den halbvollendeten Traum wieder anzuspinnen; aber das Rollen des Wagens wirkte ermüdend auf ihre Sinne. Ihre Gedanken verwirrten sich und endlich war auch sie ziemlich fest eingeschlummert.
Plötzlich gab es einen scharfen Ruck und der Wagen hielt an. Männer und Frauen standen umher mit Lichtern in den Händen. Man war zu Hause. Johanna war kaum erwacht, als sie auch schon aus dem Wagen hüpfte. Ihr Vater und Rosalie, denen ein Pächter leuchtete, trugen beinahe die ganz erschöpfte, vor Atemnot seufzende Baronin, welche fortwährend mit dünner Stimme jammerte: »Ach Gott! Meine armen Kinder! Welch langer Weg!« Sie wollte nichts essen und nichts trinken, ging sofort zu Bett und schlief nach wenigen Minuten.
Johanna und der Baron setzten sich allein zu Tische.
Sie schauten sich lächelnd an, drückten sich zuweilen die Hände und gingen nach aufgehobener Tafel sofort an die Besichtigung des restaurierten Schlosses.
Es war dies eines jener hohen weitläufigen Gebäude, wie man sie in der Normandie so oft findet, halb Schloss, halb Landhaus, in grauem Sandstein, geräumig genug für ein ganzes Geschlecht.
Ein ungeheurer Hausflur, der nach jeder Seite hin eine Ausgangstür hatte, teilte es der Länge nach in zwei Hälften. Eine Doppeltreppe, die nach oben hin in eine brückenartig angelegte Galerie endete, welche die Mitte des großen Raumes frei ließ, diente als Verbindung mit dem ersten Stockwerk.
Im Erdgeschoss trat man rechts in einen weitläufigen Salon, dessen Gobelins prachtvolles Rankenwerk mit allerlei Vögeln darin aufwiesen. Die feine Stickerei des gesamten Meublements stellte lauter Szenen aus Lafontaine’s Fabeln dar. Johanna war ausser sich vor Entzücken, als sie einen Stuhl wiederfand, an dem schon in der Kinderzeit ihr Herz gehangen hatte und der die Erzählung vom Fuchs und dem Storch versinnbildlichte.
Neben dem Salon befanden sich die Bibliothek voll alter Bücher und noch zwei unbenutzte Zimmer. Links war der Speisesaal mit neuem Getäfel, die Leinwandkammer, die Silberkammer, die Küche und ein kleines Badezimmer.
Die ganze erste Etage durchschnitt ein langer Gang, auf welchen zu beiden Seiten zehn Zimmer mündeten. Ganz hinten rechts fand Johanna das ihrige. Erwartungsvoll trat sie ein. Der Baron hatte es neu herrichten lassen, indem er Vorhänge und Möbel vom Boden entnahm, wo sie bisher unbenutzt gelagert hatten.
Ganz antike vlämische Tapeten bedeckten die Wände dieses kleinen Heiligtums.
Als Johanna einen Blick auf ihr Bett warf, stiess sie einen Freudenschrei aus. An den vier Enden trugen vier große aus Eiche geschnitzte Vögel, glänzend schwarz poliert, den Vorhang, und schienen gleichsam seine Hüter zu sein. Die breiten Streifen desselben stellten Blumen-Guirlanden mit Früchten dar. Vier fein geschnitzte Säulen mit korinthischen Kapitalen trugen ein Karnies, welches mit Rosen und Amoretten geziert war.
Bei aller Massivität und dem düsteren Eindruck des alten Holzes machte sich das Ganze doch sehr graziös.
Die Bettdecke und der Betthimmel flimmerten wie zwei Firmamente. Sie waren aus antiker dunkelblauer Seide mit eingewirkten großen goldenen Blättern und Lilien gefertigt.
Als Johanna alles genügend bewundert hatte, hob sie die Kerze höher, um das Sujet der Gobelins besser betrachten zu können. Ein junger Mann und ein junges Mädchen, seltsam in grüne, gelbe und rote Farben gekleidet, plauderten unter einem blauen Baume, an welchem weiße Früchte reiften. Nicht weit davon weidete ein fettes Kaninchen, ebenfalls weiß, in grauem Grase.
Oberhalb dieser Gruppe bemerkte man in angemessener Entfernung fünf runde Häuschen mit spitzen Dächern, und ganz oben, fast im Himmel, eine auffallend rote Windmühle. Dazwischen rankten überall große seltsame Blumen.
Die beiden anderen Felder hatten mit dem ersten viele Ähnlichkeit; nur sah man aus den Häusern vier Leutchen in vlämischer Tracht treten, die die Hände teils vor Erstaunen, teils im höchsten Zorn gen Himmel streckten.
Das vierte Feld hingegen stellte eine sehr traurige Szene dar. Neben dem Kaninchen, welches immer noch weidete, lag der junge Mann anscheinend tot im Grase. Die junge Dame durchbohrte sich, ihn anschauend, die Brust mit einem Degen; die Früchte an dem Baume waren schwarz geworden.
Schon wollte Johanna darauf verzichten, den Sinn dieser Darstellung zu erfassen, als sie in einer Ecke ein winziges Tierchen erblickte, welches das Kaninchen, wenn es gelebt hätte, wie einen Grashalm hätte verspeisen können. Und doch stellte es einen Löwen dar.
Da fiel ihr die unglückliche Geschichte von Pyramus und Thysbe wieder ein. Wenngleich sie über die Naivetät der Darstellung lächeln musste, so fühlte sie sich doch glücklich, von diesem Liebes-Abenteuer umgeben zu sein, welches zu ihrem Herzen stets von zärtlichen Hoffnungen reden und ihre Träume sozusagen jede Nacht mit dieser antiken sagenhaften Liebe ausschmücken würde.
Der Rest des Mobiliars vereinigte in sich die verschiedensten Style. Es waren jene Art von Möbeln, wie sie in jeder Familie von Generation zu Generation wandern und manchen Häusern das Aussehen eines bunt zusammengewürfelten Museums verleihen. Zu beiden Seiten einer mit glänzender Bronze beschlagenen Kommode im Stile Ludwigs XIV. standen zwei Sessel aus der Zeit Ludwigs XV., noch in ihren blumengestickten seidenen Überzügen. Ein Schreibtisch aus Rosenholz stand gegenüber dem Kamin, auf welchem sich unter einem Glassturz eine Uhr aus der Empire-Zeit befand.
Es war dies ein bronzener Bienenkorb von vier Marmorsäulen getragen, die sich über einem Garten von vergoldeten Blumen erhoben. Ein zierlicher Perpendikel, der aus einem schmalen Schlitz des Bienenkorbes heraushing, trug an seinem Ende eine kleine Biene mit emaillierten Flügeln, die auf diese Weise sich über den vergoldeten Blumen hin und her bewegte. Das Zifferblatt zeigte sehr feine Porzellanmalerei.
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