Dann hörte man wieder das »Kyrie eleison« des Priesters, dem alle Andächtigen mit Mund und Herzen folgten. Die ganze Gemeinde sang so laut und inbrünstig mit, dass eine Wolke von Staub und Mörtelstückchen sich in Folge der mächtigen Schallwellen an dem alten morschen Gewölbe erhob. Die Sonne brannte heiss auf die kleine Kirche, in der allmählich eine dumpfe Stickluft zu herrschen begann. Eine tiefe Bewegung, eine ängstliche Spannung auf das nahende heilige Geheimnis bemächtigte sich der Kinderherzen und schnürte die Kehlen der Mütter zusammen.
Der Priester schritt nun mit entblösstem, im Glanze der Silberhaare schimmernden Haupte an die rechte Seite des Altars und schickte sich mit zitternden Händen an, die heilige Opferung zu begehen.
Dann wandte er sich zu den Gläubigen und sprach, die Hände zu ihnen ausstreckend: »Orate fratres« -- »betet, meine Brüder«, worauf die Stille eines lautlosen Gebetes der ganzen Gemeinde folgte. Nach dem Sanktus begann dann wieder das Stillgebet in jenem feierlichen andachtsvollen Schweigen, welches die Herzen auf die eigentliche geheimnisvolle Feier vorbereitet. Ein Glöckchenzeichen des Messdieners rief eine allgemeine Bewegung hervor; jeder suchte seinem Körper auch äusserlich die innere demutsvolle Erwartung aufzudrücken. Jetzt sprach der Priester mit halblauter Stimme in kleinen Absätzen die Verwandlungsworte, dreimal schlug das Glöckchen an und ein jeder klopfte andächtig an seine Brust, Gott voll Inbrunst anbetend. Über den Kindern lag es wie eine Wolke schauervoller Weihe.
In diesem feierlichen Augenblicke erinnerte sich Rosa plötzlich ihrer Mutter, der Kirche ihres Dorfes und ihrer eigenen ersten Kommunion. Sie versetzte sich im Geiste an jenen Tag zurück, wo sie, noch ebenso klein und unschuldig, ganz in ihrem weißen Kleide verhüllt war, und fing an zu weinen. Erst weinte sie leise; langsam drangen die Tränen aus ihren Wimpern. Dann aber wuchs ihre Bewegung mit ihren Erinnerungen, und schliesslich schluchzte sie laut, den Kopf tief gebeugt mit heftig wogender Brust. Sie hatte ihr Taschentuch hervorgezogen, sie wischte sich die Augen, schnupfte sich und presste den Mund auf das Tuch, um nicht aufzuschreien, allein es half alles nichts. Eine Art Röcheln drang aus ihrer Kehle und wurde von zwei herzzerreissenden Seufzern rechts und links beantwortet; denn Louise und Flora, von denselben Erinnerungen an die ferne Jugendzeit ergriffen, seufzten ebenfalls unter strömenden Tränen.
Das wirkte ansteckend, und Madame fühlte, dass auch ihre Augenlider feucht wurden; als sie sich zu ihrer Schwägerin umwandte, sah sie, dass die ganze Bank weinte.
Der Priester zeigte den Leib des Herrn und die Kinder vergassen, in ahnungsvoller Bange auf die Knie gesunken, alles rings um sie her. In der Kirche zog bald hier bald dort eine Frau, eine Mutter, eine Schwester, hingerissen von der eigenen Bewegung oder vielleicht auch durch das Beispiel der knienden fremden Damen, die unaufhörlich seufzten und schluchzten, ihr großkarriertes kattunenes Taschentuch, die Linke fest an das heftig pochende Herz pressend.
Wie ein Funke, der eine dürre Grasfläche in Brand setzt, so hatten die Tränen Rosas und ihrer Gefährtinnen mit einem Male auf die ganze Menge gewirkt. Männer und Frauen, Greise und Jünglinge, fast alles weinte, und etwas Übermenschliches, der Hauch einer Seele, der wunderbare Odem eines unsichtbaren allmächtigen Wesens schien über ihnen zu schweben.
Jetzt hörte man in der Kirche einen leisen kurzen Schlag widerhallen: Die Schwester gab das Zeichen zum Beginn der Kommunion, indem sie mit dem Rücken des Fingers an ihr Gebetbuch klopfte, und von himmlischen Schauern bewegt näherten sich die Kinder dem Tische des Herrn.
Die erste Reihe kniete nieder. Der alte Pfarrer, das vergoldete silberne Ciborium in der Hand, trat zu jedem einzelnen heran und bot ihm zwischen seinen zwei Fingern die geweihte Hostie, den Leib des Herrn und Erlösers. Sie öffneten krampfhaft den Mund mit einer Art nervösem Zittern, die Augen in Andacht geschlossen, bleich vor Erregung, und das Kommuniontuch unter ihrem Kinn bewegte sich wie wogendes Wasser.
Eine Art von Verzückung brach in der Kirche aus, man hörte das Geräusch der ergriffenen Menge, das wogende Schluchzen wie unterdrücktes Schreien. Es war wie das Säuseln des Windes in den Kronen der Bäume. Unbeweglich, eine Hostie in der Hand, stand der greise Priester, tief ergriffen, einen Augenblick da: »Das ist Gott, Gott, der seine Gegenwart unter uns bekundet, der auf meinen Ruf zu seinem knienden Volke herabsteigt«, so wogte es in seinem Herzen, und halbverzückt murmelte er ein wortloses Gebet, das Gebet einer Seele, die den Himmel offen zu sehen glaubt.
Er vollendete die Spendung der heiligen Hostie mit solcher Glaubens-Inbrunst, dass ihm die Knie zitterten, und nachdem er selbst das Blut des Herrn getrunken, ergoss sich sein Herz in einem stillen heissen Dankgebet.
Die Gemeinde hinter ihm beruhigte sich erst allmählich. Die Sänger in ihren weißen Chorhemden begannen mit unsicherer noch etwas vibrierender Stimme aufs Neue ihren Gesang, und selbst die Orgel klang etwas heiser, als habe auch sie sich der Tränen nicht erwehren können.
Als der Priester die Hände hob, brach sie ihr Spiel ab, und der ehrwürdige Greis schritt nun zwischen den zwei Gruppen glückstrahlender Kinder hindurch bis an die Chorbank vor.
Die Gläubigen hatten sich gesetzt, und durch die ganze Kirche hörte man das Rücken der Bänke und das laute Geräusch nochmals gebrauchter Taschentücher. Dann trat feierliche Stille ein, und mit tiefer verschleierter Stimme, etwas stockend, begann der Priester:
»Meine teuren Brüder! Meine teuren Schwestern! Liebe Kinder! Ich danke Euch aus ganzem Herzen, dass Ihr mir die schönste Freude meines Lebens bereitet habt. Ich habe es empfunden, dass Gott selbst auf mein Flehen zu Euch herabgestiegen ist. Er selbst ist gekommen, um mit seiner Gegenwart unter uns zu weilen, die Seelen zu erfüllen und die Augen überquellen zu machen. Ich bin der älteste Priester der Diöcese, aber ich bin auch heute der glücklichste derselben. Ein Wunder hat sich unter uns ereignet, ein wahrhaftiges großes erhabenes Wunder. Während Jesus Christus zum ersten Male von den Seelen dieser Kleinen Besitz nahm, um darin zu wohnen, hat sich der Heilige Geist, die Himmelstaube, der Odem Gottes auf Euch herabgelassen, hat sich Eurer Herzen bemächtigt, hat sie umfangen und umsäuselt wie der linde Morgenwind den blühenden Rosenstock.« Sich dann mit klarerer Stimme zu den beiden ersten Bänken wendend, in denen die Gäste des Tischlers sassen, fuhr er fort: »Dank vor allem Euch, meine lieben Schwestern, die Ihr so weit hergekommen seid, und deren Anwesenheit unter uns, deren sichtbarer Glaube, deren lebhafte Andacht uns Allen ein so heilsames Beispiel gaben. Ihr waret die Erbauung meiner Gemeinde, Eure Bewegung hat ihre Herzen mit entzündet; ohne Euch hätte dieser große Tag vielleicht niemals diesen wahrhaft erhabenen Verlauf genommen. Genügt doch oft ein einzelnes auserwähltes Lamm, dass der Herr zur ganzen Herde sich herablasse.«
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