Sie suchte, wen sie nun herbeirufen könnte. Welchen Mann? Sie wusste keinen. Einen Priester! Ja, einen Priester! Sie würde sich zu seinen Füßen werfen, sie würde alles gestehen, ihm ihre Sünde und Verzweiflung beichten. Er würde sie verstehen, er würde begreifen, dass dieser Ehrlose Suzanne nicht heiraten könnte, und er würde es zu verhindern wissen.
Sie brauchte sofort einen Priester! Wo sollte man ihn jetzt finden? Wohin sollte sie gehen? Und so bleiben konnte sie nicht mehr.
Da trat ihr wie eine Vision die erleuchtete Gestalt des auf dem Meere wandelnden Jesus vor Augen. Sie sah ihn so klar und deutlich, als stünde sie vor dem Bilde. Er rief sie also! Er sagte zu ihr: »Kommet zu mir, kniet vor mir hin. Ich will euch trösten und auch eingeben, was ihr tun sollt.«
Sie nahm ihr Licht, verließ das Zimmer und ging hinab in den Wintergarten. Das Jesusbild befand sich ganz am Ende desselben in einem kleinen Räume, der mit einer Glastür verschlossen war, damit die Feuchtigkeit der Erde die Leinwand des Gemäldes nicht angreifen könnte.
Das Ganze sah aus wie eine kleine Kapelle in einem Wald von seltsamen Bäumen.
Als sie den Wintergarten betrat, den sie nie anders als nur in heller Beleuchtung gesehen hatte, stand sie betroffen da vor seiner dunklen Tiefe. Die schweren Tropenpflanzen verdickten die Luft mit ihrem schwülen Atem. Und da die Türen geschlossen waren, so drang der beklemmende Duft dieses seltsamen Waldes, der von einer Glaskuppel bedeckt und umschlossen war, schwer und berauschend in die Lungen.
Die unglückselige Frau ging langsam vorwärts; sie blickte ängstlich auf die Schatten der fantastisch geformten Pflanzen, auf die das schimmernde Licht der Kerze fiel, und die wie ungeheuer lebende, seltsame Missgestalten auftauchten.
Plötzlich sah sie Christus. Sie öffnete die Tür, die ihn von ihr trennte, und stürzte auf die Knie.
Zuerst betete sie ganz verstört, stammelte Liebesworte und leidenschaftliche und verzweifelte Beschwörungen, dann wurde sie etwas ruhiger und richtete ihre Augen zu ihm empor, und sie blieb in einer unendlichen Angst erstarrt. Beim flackernden Licht einer einzigen Kerze, die ihn von unten schwach beleuchtete, war die Ähnlichkeit zwischen ihm und Bel-Ami noch auffallender. Es war nicht mehr Gott, sondern ihr Geliebter, der sie ansah. Es waren seine Augen, seine Stirn, sein Gesichtsausdruck, seine kalte und hochmütige Haltung.
Sie stammelte: »Jesus! — Jesus! — Jesus!«
Aber das Wort »Georges« kam über ihre Lippen. Auf einmal fiel ihr ein, dass Georges vielleicht in dieser Stunde ihre Tochter verführte und in Besitz nahm. Er war allein mit ihr, irgendwo, in irgendeinem Zimmer. Er! Er! Mit Suzanne. Sie wiederholte: »Jesus! … Jesus!« Doch sie dachte an sie … an ihre Tochter und an ihren Geliebten! Sie waren allein in einem Zimmer… es war Nacht. Sie sah die beiden. Sie sah sie so deutlich, so deutlich, wie das Bild, das vor ihr stand. Sie lächelten sich zu, sie küssten sich. Das Zimmer war dunkel, das Bett aufgedeckt. Sie stand auf, um sich zu nähern, um ihre Tochter am Haar zu fassen und sie aus dieser Umarmung herauszureißen. Sie wollte sie an der Kehle packen, erwürgen, ihre eigene Tochter, die sie hasste, ihre Tochter, die sich diesem Manne hingab. Sie fasste sie schon. … ihre Hände stießen an die Leinewand des Gemäldes. Sie berührte die Füße Christi … Sie schrie laut auf und sank zu Boden. Die Kerze war umgefallen und erlosch.
Was geschah weiter? Sie träumte lange von seltsamen schrecklichen Dingen. Es war immer Georges und Suzanne, die vor ihre Augen traten, eng aneinander geschmiegt, und der Christus segnete ihre verruchte Liebe.
Sie hatte das Gefühl, sie befinde sich nicht in ihrem Hause. Sie wollte aufstehen, fliehen, doch sie hatte keine Kraft. Eine Starrheit hatte sie befallen, ihre Glieder waren gelähmt, nur die Gedanken blieben ihr noch, wenn auch verwirrt und betört durch grässliche, fantastische Vorstellungen. Sie war halb betäubt und träumte. Es war ein ungesunder, seltsamer und bisweilen tödlicher Traum, den die einschläfernden tropischen Pflanzen mit ihren wundervollen Formen und schwülem Duft in das Menschengehirn eindringen lassen.
Bei Tagesanbruch fand man Frau Walter bewusstlos und halbtot vor dem Christusbild auf dem Rücken ausgestreckt liegen. Sie war so krank, dass man für ihr Leben fürchtete. Erst am Tage darauf kam sie wieder zu vollem Bewusstsein. Dann begann sie zu weinen.
Das Verschwinden Suzannes wurde der Dienerschaft damit erklärt, dass sie plötzlich ins Kloster zurückgeschickt worden sei. Herr Walter antwortete Du Roy auf seinen langen Brief und sagte ihm die Hand seiner Tochter zu.
Bel-Ami hatte seinen Brief in den Postkasten geworfen, in dem Augenblick, wo er Paris verließ, denn er hatte ihn schon am Abend vor der Entführung geschrieben. In respektvollen Ausdrücken teilte er darin mit, dass er seit langem schon das junge Mädchen liebe, dass jedoch nie eine Verabredung zwischen ihnen beiden bestanden hatte, dass er aber, als sie in voller Freiheit zu ihm gekommen war, um ihm zu sagen: »Ich will Ihre Frau sein«, sich für berechtigt hielt, sie zu behalten und sogar zu verbergen, bis er von den Eltern eine Antwort erhalten würde, deren rechtmäßigen Willen er respektiere, aber für weniger maßgebend halte, als den Willen seiner Verlobten selbst.
Er bat Herrn Walter, ihm postlagernd zu antworten; ein Freund würde ihm den Brief übermitteln.
Als er seinen Zweck erreicht hatte, brachte er Suzanne nach Paris und schickte sie zu ihren Eltern zurück; er selbst hielt sich eine Weile von ihnen fern.
Sie hatten sechs Tage an der Seine in La Roche-Guyon verbracht.
Noch nie hatte sich das junge Mädchen so amüsiert. Sie spielte die Bäuerin. Und da er sie als seine Schwester ausgab, so lebten sie ungeniert und keusch nebeneinander, in einer Art verliebter Kameradschaft. Er hielt es für gescheiter, sie nicht anzurühren. Am Tage nach ihrem Eintreffen kaufte sie sich Bauernwäsche und Kleider. Sie angelte und trug dabei auf dem Kopf einen riesigen Strohhut mit Feldblumen. Sie fand die Gegend bezaubernd. Es gab da einen alten Turm und ein altes Schloss, wo man prächtige Wandteppiche zeigte.
Georges trug eine Bauernbluse, die er sich im Dorfe beim Kaufmann erstanden hatte. Er machte mit Suzanne Ausflüge entweder zu Fuß am Fluss entlang, oder im Boot. Sie küssten sich jeden Augenblick. Suzanne in voller Unschuld, er bereit, seiner Begierde zu unterliegen. Doch er nahm sich zusammen, und als er ihr sagte: »Morgen kehren wir nach Paris zurück, Ihr Vater versichert mir Ihre Hand«, da meinte sie ganz naiv:
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