Julia lässt ihre Hand sinken und bemerkt, wie sie zittert. »Meins«, sagt sie aufgewühlt. »Es ist tatsächlich meins. Bruno hat es für mich gemacht. Von Hand gearbeitet. Nach seinen Vorstellungen.« Sie rutscht auf dem Stuhl nach hinten, drückt unter dem Morgenmantel die Knie zusammen und beugt ihren Körper leicht nach vorn. Dann stützt sie ihre Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und legt ihr Kinn in die Handflächen. »Er kann mit Leder umgehen.« Dann schweigt sie einen Moment und senkt den Blick auf den Boden.
Wehmütig sieht sie aus, denkt Sarah. Sie weiß nicht, aus welchem Grund Julia nicht zu Herrn Conrad zurückgekehrt ist, aber es kann kein unbedeutender gewesen sein.
»Nicht nur mit Leder«, sagt sie leise. Nur, um die Stille vorsichtig zu unterbrechen und den Faden nicht zu verlieren.
Julia holt Luft und sieht ihr direkt in die Augen. Entschlossen.
»Sarah«, sagt sie, »das Halsband bedeutet mir sehr viel. Es ist mir ein unschätzbarer Wert. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst.«
»Ich kann es, glaube mir«, unterbricht Sarah. Sie verzichtet auf die förmliche Anrede. Ihr Gegenüber tut es auch. Und sie spürt, dass sie sich verstehen werden. Sie befinden sich, wie ihr scheint, in recht ähnlichen Situationen.
»Bist du dir sicher?« Julia zieht ihre Augenbrauen nach oben. Zweifelnd. »Hast du schon einmal ein Halsband getragen? Für jemanden?«
Sarah spürt einen kurzen, prüfenden Blick auf ihren Hals. Aber dort ist nichts. Noch nie trug sie ein Zeichen. Sie weiß nicht, wie es sich anfühlt, auf diese Weise in Besitz genommen zu werden. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als es zu erleben. Wie stolz wäre sie, würde man ihr diese Erfahrung schenken.
»Nein«, sagt sie bedauernd. »Habe ich nicht.«
»Aber du würdest es tun?«
Ausweichend wiegt Sarah ihren Kopf. Bestimmt würde sie es tun. Aber nicht für jeden. Es müsste ein Mann sein, zu dem sie aufschauen kann. Der ihr trotz seiner Macht das Gefühl gibt, in seiner starken Hand sicher zu sein. Dem sich ihr Körper und ihre Seele aus einem Instinkt heraus unterordnen würden. Selbstständig. Im vollen Bewusstsein, nicht den Hauch einer Chance zu haben, sich zu widersetzen. Dann würde sie es tun. Würde jemand sie so zu beherrschen verstehen, wäre sie sein Eigentum.
»Du weißt aber«, fügt Julia an, »was das bedeutet?« Ihr Blick bohrt nach wie ein Fragebogen.
»Ja.« Sarah knetet ihre Hände über der Handtasche. »Ich weiß es.« Ihr wird bewusst, dass sie sich offenbart. Zum ersten Mal in ihrem Leben gewährt sie Einblick in Fantasien, die in dunkler Tiefe verborgen waren. Herr Conrad hatte sie ausgelotet und zielsicher freigespült. Nachdem das Wasser wieder aufgeklart ist, liegen sie um so deutlicher dort und leuchten auffordernd herauf.
»Und woher weißt du das?« Julia lehnt sich skeptisch zurück.
Sarah überwindet sich. Öffnet von innen eine erste Tür zu ihrer Seele.
Ich bin wie du.« Sie bemerkt den erstaunten Blick der Frau gegenüber. Aber nun gibt es kein Zurück mehr. »Ich fühle mich hingezogen zu Männern, die mich nicht einfach nur in den Arm nehmen und neben mir sein wollen. Das ist mir zu wenig. Ich suche jemanden, der mich unter sich sehen will und weiß, wie er mich konsequent dort hält. Der Macht über mich hat, mich ganz nach seinem Willen beherrscht. Dem ich ausgeliefert bin. Der mich aufleben lässt, weil er es so will. Der mir gut tut.« Sarah holt tief Luft, denn so intensiv hat sie sich noch nie zuvor geäußert. Sie kämpft gegen ein elektrisierendes Gefühl auf ihrer Haut. »Ich möchte unterworfen werden.« Ihre Stimme zittert. »Und ich würde mir ein Halsband umlegen lassen von dem Mann, dem das gelingt.«
Vor dem Panoramafenster bewegen sich Blumen und Gräser. Ein leichter Wind streicht kurz durch ihre sattgrünen Linien. Julia sieht nach draußen und nickt. Sie versteht, dass ihre Besucherin nicht anders fühlt als sie selbst.
»Es ist nicht immer einfach, es zu tragen«, sagt sie schließlich und wagt einen Blick auf das Halsband, welches zwischen ihnen auf dem polierten Holz der Tischplatte liegt. »Und es wird erst im Laufe der Zeit zu dem, was es einem wirklich bedeutet. Als ich ihm das erste Mal begegnete, hatte ich völlig andere Vorstellungen.«
Sarah schließt den Reißverschluss ihrer Handtasche und stellt sie vorsichtig neben sich auf dem Parkettboden ab.
»Schau dir das Halsband an. Wie würdest du es beschreiben?«
»Schlicht«, sagt sie, ohne lange zu überlegen. »Einfach. Zweckmäßig.« Es ist das, was ihr sofort aufgefallen war, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. So oft hielt sie es später in der Hand mit einem quälenden Gedanken daran, dass es nicht ihres ist. Sie kennt jeden Zentimeter. Sogar den glänzenden Abdruck der Schließe hinter dem letzten Loch. »Und trotzdem ist es sehr schön.«
»Nun«, meint Julia, »mein erster Eindruck war ein anderer.« Sie lehnt sich wieder zurück und erinnert sich an die Zeit, als sie Lia war. Für Bruno.
»Welcher?«, erkundigt sich Sarah neugierig. Sie kann sich kaum vorstellen, dass das Halsband Lia nicht gefallen haben könnte.
»Möchtest du wirklich, dass ich dir das erzähle?«
Sarah nickt. »Bitte.« Von Herrn Conrad hat sie so viele Geschichten erfahren über Lia, aber das Halsband spielte selten eine Rolle. »Ich bin wie du«, bekräftigt sie und bemerkt, dass es ihr plötzlich viel leichter fällt, das zu sagen.
»Vielleicht«, antwortet Julia diplomatisch. Sie weiß, dass sie Fantasien hat, die sie Sarah möglicherweise nie erzählen würde. Dinge, die diesen Keil zwischen Bruno und sie getrieben haben und die sie niemals wieder angerührt hat seitdem. Sie lehnt sich zurück und versucht sich loszureißen von ihren Gedanken an ein altes Schloss, in ihren Körper geschobene Weinbeeren und den berauschend herben Geruch nach Gewalt.
»Damals hat das Halsband genau hier gelegen, auf diesem Tisch.«
»War er …« Sarah fühlt mit der Hand über die Seite des Stuhles, auf dem sie sitzt. »War er etwa hier?«
Julia nickt bedächtig. »Ja«, sagt sie. »Bruno war häufig hier.« Dann schaut sie lange und aufmerksam zu ihrer Besucherin. Sie überlegt, ob es der Wahrheit entspricht, dass es zwischen Sarah und Bruno keine tiefere Verbindung gibt. Vielleicht, denkt sie, hat er doch vergessen können. Einer anderen Frau den Platz gegeben, den er für immer Lia versprochen hatte. Wenn es so wäre, würde es ihre Vorstellung, die Eine gewesen zu sein, wie sprödes Glas zerbrechen. Vielleicht war es aber endlich ein Weg, sich zu befreien. Loszulassen. Sie spürt Sarahs Aufregung am tiefen Einatmen. Verräterisch, denkt sie. Und so ergänzt sie laut und deutlich: »Du sitzt auf seinem Stuhl.«
Unwillkürlich zieht Sarah die Beine an und beugt den Oberkörper vor, um sich zu erheben. Sein Stuhl. Sein Thron. Dort hat sie nichts zu suchen. Es gehört sich nicht. Aber dann besinnt sie sich. Legt ihre Ellenbogen auf den Rand des Tisches und überspielt den Reflex mit einem unsicheren Lächeln.
Julia nickt. Sie hat die kurze, aber deutliche Reaktion bemerkt. Das war kein Zufall. Sie stellt sich Sarah neben Bruno vor. Er hat also doch, glaubt sie. Trotz des Altersunterschiedes. Bevor sie jedoch Gelegenheit findet, eine dunkle Vermutung auszuleuchten, wird sie von Sarah unterbrochen.
»Erzähle bitte. Ich werde still sein.«
Stille, denkt Julia. Das war es, was Bruno ihr stets zu gleichen Teilen abverlangt und gewährt hat. Sie konnten sich stundenlang gegenübersitzen, ohne ein Wort zu sprechen. Und doch war es niemals ein Schweigen. Stattdessen waren es die intensivsten Zwiegespräche, die sie geführt hatte und aus denen sie stets neue Lehren gezogen hatte. Über sich, ihr Verhalten und ihre Seele. Über Bruno. Ganz wortlos. Auch an jenem Tag hatte er sie still knien lassen.
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