In der Jugendzeit schließlich verbrachte ich viele Stunden draußen in der Natur, in den Wäldern und auf den Bergen, um Wildtiere zu beobachten. Bis heute gehört die Balz von Auer- und Birkhahn oder die Brunft der Hirsche zu den schönsten und beeindruckendsten Erlebnissen, aber auch das Beobachten von Rehen, Gämsen, Murmeltieren, Bussarden, Adlern und vielen anderen Tieren war und blieb ein Hobby. Wie froh war ich immer, dass niemand in meiner Familie Jäger war, so sehr mich die Jagdtrophäen der Jäger in der Nachbarschaft auch beeindruckten und faszinierten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich verdanke befreundeten Jägern, dass sie mir Balzplätze von Auer- und Birkwild oder gute Einstände von Rotwild „verraten“ haben – aber ein Tier zu töten, von dessen Schönheit und Anmut ich fasziniert bin, würde ich nicht über mich bringen.
Die Liebe zu den Tieren und das Interesse an ihnen blieben in mir wach. So wollte ich später Verhaltensforschung studieren, doch mit der Entscheidung zum Theologiestudium nahm mein Leben eine andere Wendung. Während meines Studienbeginns in Innsbruck schätzte ich mich glücklich, mit dem Alpenzoo einen Tiergarten gleichsam „vor der Haustür“ zu haben, der sich dadurch auszeichnet, dass in weitgehend großflächigen Gehegen nur heimische Tierarten aus der Alpenregion gehalten werden. Aufgrund der artgemäßen und tierfreundlichen Haltung sowie der Erfolge in der Nachzucht und bei der Auswilderung von bedrohten und seltenen Tierarten der alpinen Region genießt der Zoo auf internationaler Ebene ein hohes Ansehen. Als Mitglied des Vereins der Freunde des Alpenzoos gehöre ich immer noch zu den regelmäßigen Zoobesuchern. In meiner 1999 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien eingereichten Diplomarbeit zum Thema „Zur wechselseitig kritischen Funktion von Soziobiologie und theologischer Ethik“ habe ich mich mit einigen Fragen der Tier-Mensch-Beziehung auf neue, wissenschaftlich reflektierte Weise auseinandergesetzt. Im Rahmen der Verfassung der Arbeit hatte ich damals die Möglichkeit zu interessanten Diskussionen mit dem Verhaltensforscher Kurt Kotrschal. Eine Vorlesung bei Rupert Riedl in der Konrad-Lorenz-Villa in Altenberg bei Wien über die evolutionäre Erkenntnistheorie bleibt mir als eine der interessantesten Lehrveranstaltungen meiner Studienzeit in Erinnerung. Die damals diskutierten Fragen „über Gott und die Welt“ beschäftigen mich weiterhin. – Des langen Vorworts kurzer Sinn: Mit diesem Tierethikbuch greife ich ein Thema auf, das mich seit jeher begleitet und mir sehr am Herzen liegt.
Es freut mich, dass zwei Kollegen an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, Christoph J. Amor, Professor für Dogmatik, und Markus Moling, Professor für Philosophie, von diesem Buchprojekt angetan waren und spontan meiner Einladung gefolgt sind, daran mitzuwirken. Uns verbindet nicht nur eine große Naturverbundenheit, die in gemeinsamen Exkursionen und Wildbeobachtungen Ausdruck findet, sondern auch, dass uns philosophische, theologische und ethische Fragestellungen in Bezug auf die Tiere und die Tier-Mensch-Beziehung interessieren. Ich danke den beiden herzlich, dass sie jeweils zwei Beiträge beigesteuert haben, die im Inhaltsverzeichnis sowie im Textkorpus namentlich gekennzeichnet sind, sowie für die konstruktiv kritischen Rückmeldungen zu den einzelnen Abschnitten dieses Buches.
Schließlich gilt mein Dank dem Tyrolia-Verlag für die Aufnahme dieses Titels ins Verlagsprogramm und Frau Brunhilde Steger für die engagierte Betreuung der vorliegenden Publikation.
Widmen möchte ich dieses Buch meinem Vater, der aus Überzeugung und mit Herz Bergbauer war. Er ist an den Folgen eines landwirtschaftlichen Unfalls verstorben. Sein Leben und sein Schicksal zeigen, dass das Leben mit und in der Natur schön und erfüllend ist, aber auch rau und hart sein kann. Für eine romantisch-sentimentale Naturbetrachtung bleibt oft wenig Platz. Die Natur ist unser Lebensraum, aber sie ist uns nicht nur freundlich gesinnt. Diese Ambivalenz ist auch der Beziehung zwischen Mensch und Tier eingeschrieben. Darüber und über weitere spannende Fragen nachzusinnen will dieses Buch anregen.
Brixen / Innsbruck, im Frühling 2017 |
Martin M. Lintner |
EINFÜHRUNG
1.Zielsetzung und Aufbau dieses Buches
a) An wen wendet sich das Buch?
Das vorliegende Tierethikbuch richtet sich an einen möglichst großen Personenkreis. Es will auf wissenschaftlichem Niveau und zugleich auf verständliche Weise in die komplexe und interessante Thematik der Tierethik einführen.
Tierfreundinnen und Halter 1von Nutz- oder Haustieren finden viele Hintergrundinformationen zu ethischen und philosophischen Fragestellungen sowie einen Einblick in die aktuellen Debatten in Bezug auf die Tier-Mensch-Beziehung. Es werden Fragen vertieft wie: Welchen moralischen Status haben Tiere? Soll man von der „Würde des Tieres“ sprechen bzw. was kann man darunter verstehen? Welche ethische Relevanz haben die Unterschiede zwischen den verschiedensten Tiergattungen und -arten, welche hingegen die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Menschen und Tieren? Ist der Mensch nichts anderes als ein Tier oder ist er ganz anders als ein Tier? 2Sind die Tiere die besseren Menschen und Menschen die schlechteren Tiere? Warum geht der Einsatz für und die Liebe zu den Tieren oft einher mit einer gewissen misanthropischen Grundhaltung? Eingegangen wird auch auf die schwierige, für Tierliebhaber oft schmerzliche Frage, wieso Tiere leiden müssen – und zwar auch unabhängig vom Handeln des Menschen –, oder was wir für die Tiere nach ihrem Tod erhoffen dürfen: Macht es Sinn, Tiere zu beerdigen? Und kommen auch Tiere in den Himmel?
Das Buch möchte aber über die Personengruppe hinaus, die einen direkten Umgang mit Tieren pflegt, eine möglichst breite Leserschaft erreichen, und zwar deshalb, weil die meisten Menschen in unserer Gesellschaft tierische Produkte bzw. Produkte mit tierischen Inhaltsstoffen konsumieren – angefangen von Nahrung, Bekleidung, Haushaltstextilien … bis hin zu Kosmetika, Medikamenten, Klebstoffen, Schaumstoffen usw. Deshalb wirken sich ihr Konsumverhalten sowie ihr Lebensstil auf das Leben von Tieren, auf deren Haltungs- und/oder Schlachtungsbedingungen aus. Das Buch will dafür sensibilisieren, dass jede und jeder als Konsumentin bzw. Konsument eine Mitverantwortung dafür trägt, wie Nutztiere behandelt, gehalten, gepflegt und schließlich getötet werden. Die Position, die in diesem Buch vertreten und begründet wird, ist nicht jene, dass die Tiernutzung radikal abgelehnt wird, sondern dass Tiere so gehalten und gepflegt werden, dass dies sowohl ihren artspezifischen als auch ihren individuellen Bedürfnissen und Vermögen auf der Empfindungs-, emotionalen und kognitiven Ebene gerecht wird.
Eine neuralgische Frage ist und bleibt die nach der ethischen Vertretbarkeit der Tötung von Tieren. Es werden die Bedingungen herauszuarbeiten sein, unter denen die Schlachtung oder die Bejagung von Tieren ethisch vertretbar sein kann. Vertreten wird allerdings die (zu begründende) These, dass das prinzipielle Tötungsverbot über den Menschen hinaus auf bestimmte Tierarten auszuweiten ist, und zwar ohne die Mensch-Tier-Differenz aufzuheben und ohne von den betroffenen Tieren deshalb zu sagen, dass ihnen dieselbe Würde zukommt wie einem Menschen.
b) Warum ein weiteres Tierethikbuch?
Seit einigen Jahren ist der erfreuliche Trend festzustellen, dass immer mehr Menschen für tierethische Fragen sensibel werden und dass es viele diesbezügliche Diskussionen und einschlägige Publikationen gibt. Das vorliegende Buch wird einige dieser Ansätze kritisch diskutieren, erhebt aber nicht den Anspruch, die klassischen wie auch neuere tierethische Positionen systematisch darzustellen. 3Es wird eine Auseinandersetzung stattfinden mit den bio- und tierethischen Konzepten von Albert Schweitzer, Peter Singer, Tom Regan, Martha Nussbaum u. a. Zu Wort kommen werden auch Ethikerinnen und Ethiker wie Richard David Precht, Ursula Wolf, Anne Siegetsleitner, Leonie Bossert u. a. m. Auch in der Theologie wurden die Tiere mittlerweile als wichtiges Thema entdeckt. Eine wichtige Vorreiterrolle spielt der im deutschen Sprachraum wenig rezipierte anglikanische Theologe Andrew Linzey, der sich als Mitglied einer interdisziplinären Gruppe an der Universität Oxford in England gemeinsam mit namhaften Philosophen wie Peter Singer u. a. intensiv mit tierethischen Fragen auseinandergesetzt und schließlich eine eigene Tier-Theologie entwickelt hat. 4Er wurde zum ersten Inhaber eines theologischen Lehrstuhls für Tierethik und gründete 2006 das Oxford Centre for Animal Ethics , dessen Direktor er seither ist. Erwähnenswert ist auch das von Anton Rotzetter und Rainer Hagencord 2009 gegründete Institut für Zoologische Theologie in Münster, das sich eine wissenschaftlich fundierte theologische Würdigung des Tieres sowie die Erarbeitung und Förderung einer schöpfungsgemäßen Spiritualität zum Ziel gesetzt hat. Zudem haben sich theologische Ethikerinnen und Ethiker – wie Heike Baranzke, Michael Rosenberger, Eberhard Schockenhoff, Gerhard Marschütz, Kurt Remele, um nur einige zu nennen – intensiv mit tierethischen Fragen auseinandergesetzt und zum Teil eigene tierethische Ansätze vorgelegt.
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