Von Bekannten hatte er Geld geliehen. Er hatte die unmäßige Trinkerei bleiben lassen, hatte seine Garderobe aufgebessert und war in den Zug nach Triest gestiegen. Schon während der Fahrt hatte er begonnen, Italienisch zu lernen. In den ersten Wochen in Triest hatte er jede nur erdenkliche Arbeit angenommen, bei der er Italienisch sprechen musste. So hatte er im Fluge so viel erlernt, dass der Alltag in Triest und an Bord eines Schiffes kein Problem mehr darstellte. Daraufhin hatte er sich bei der Direktion des Österreichischen Lloyds um eine Stelle als Steward beworben. Er wurde sofort eingestellt. Ein Steward, der einen Gesellenbrief als Barbier vorweisen konnte, da wurde nicht lange gefackelt. Die Schifffahrtsgesellschaft suchte händeringend nach tüchtigem Personal, das mehrsprachig und herzeigbar war. Das war er! In der Uniform eines Stewards sah er richtig schneidig aus. Und seine Muttersprache war Deutsch, darüber hinaus sprach er recht gut Französisch, ein bisschen Ungarisch und immer besser Italienisch. Zwei Fahrten hatte er auf der Persia gemacht, ehe er im Februar dieses Jahres für die Jungfernfahrt der Thalia als Vergnügungsdampfer das Schiff wechselte. Seitdem gehörte er zum Personal der großen Yacht.
Das Schiff lag an einem Molo im Lloydarsenal und wurde für die Fahrt beladen. Georg zählte die Weinkisten und machte auf seiner Liste entsprechende Vermerke. Laufend schoben Hafenarbeiter ihre Karren die Gangway hoch. Fleisch, Wurst, Kartoffeln, allerlei Gemüse, Vorrat für über hundertsechzig Passagiere und die Besatzung. Der Schiffskommissär und der Küchenchef kontrollierten die Warenlieferungen.
Paolo Glustich, der Schiffskommissär, rief Georg zu sich. Glustich zog die Nähe zu Männern derjenigen zu Frauen vor, das war Georg beim ersten Blickkontakt klar geworden. Die beiden Männer waren schnell gute Freunde geworden, nachdem Glustich verstanden hatte, dass Georg zwar kein Interesse an intimen Kontakten hatte, aber Homosexuellen diskret, tolerant und ohne jede Herablassung gegenübertrat.
»Georg, bitte bringe die Liste mit den Fahrgästen dem Ersten Offizier auf die Brücke«, sagte Glustich und reichte Georg einen Umschlag.
»Ist die Liste jetzt vollständig?«
»Ja. Wir haben alle Namen.«
»Wird gemacht«, sagte Georg, klemmte die Mappe unter die Achsel und stieg die Treppe zum Brückendeck hoch. Als er das Bootsdeck erreicht hatte, siegte die Neugier. Wer würde sich in zwei Tagen einschiffen? Waren vielleicht berühmte Persönlichkeiten dabei? Schauspieler? Sänger? Adelige? Er stellte sich hinter eines der Rettungsboote und blätterte den Umschlag auf. Unverkennbar, der Schiffskommissär hatte die Namensliste persönlich geschrieben. Georg kannte keinen Mann, der über eine so ausgesucht schöne Handschrift wie Glustich verfügte. Georg überflog die Namen. Wer hatte die vier Luxuskabinen reserviert?
Georg erschrak. Für eine Weile hielt er die Luft an. Dann starrte er hinaus auf das offene Meer. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er sich verhalten? Würde die Situation eskalieren? Hatte er sich geirrt? Er las den Namen erneut. Kein Zweifel. Die Namen waren deutlich zu lesen. Eine der Luxuskabinen auf dem Promenadendeck war reserviert für Maximilian Eugen Graf von Urbanau, die gegenüberliegende Kabine für die Komtess Carolina Sylvia von Urbanau.
Georg klappte den Umschlag zu. Innerlich war er aufgewühlt, aber seine Miene verriet nichts. Echte Spieler durften sich niemals etwas anmerken lassen.
*
Der Abend war über die Stadt gesunken, und mit dem Sonnenuntergang hatte der kühle Wind aufgefrischt. Dennoch war Bruno warm, er öffnete die Knöpfe seines Sakkos. Er war mit schnellen Schritten den Hang von Gretta hochgestiegen. Vorsichtig schaute er sich um. In den Häusern der kleinen Siedlung brannten Lichter, niemand war mehr auf der Straße, niemand hatte ihn gesehen, also duckte er sich in das Unterholz und schlich von hinten auf das Haus zu. Durch das Fenster sah er einen Lichtschein in der Stube. Er lehnte sich an die Mauer und spähte vorsichtig in das Innere. Auf dem Tisch spendete eine Petroleumlampe auf kleiner Flamme ein bisschen Helligkeit. Schliefen die Buben schon? Er wartete eine Weile. Dann hörte er knarrende Dielen und schaute wieder durch das Fenster.
Da war Fedora! Sie trug ihren Strickkorb und setzte sich an den Tisch. War sie allein? Er wartete. Fedora drehte den Docht etwas höher und schon wurde es heller. Sie griff nach ihren Stricknadeln. Zweifellos schliefen ihre Söhne und sie ließ den Tag mit ihrer Handarbeit ausklingen.
Bruno tippte mit dem Fingernagel gegen die Scheibe. Ihr vereinbartes Signal. Fedora blickte sofort zum Fenster, erhob sich, ging zur Treppe und horchte in das Haus, ob wirklich alle schliefen. Dann eilte sie auf leisen Sohlen zum Fenster.
»Bruno! Für heute sind wir doch nicht verabredet.«
»Morgen muss ich an Bord der Thalia, übermorgen legt der Dampfer ab.«
»Du musst auf See?«
»Für dreieinhalb Wochen. Ich bin hier, um mich zu verabschieden.«
Fedora biss sich auf die Lippen. »Ich komme raus.«
Sie schloss das Fenster. Bruno huschte hinüber zur Scheune und wartete im Dunklen. Wenig später kam Fedora, küsste Bruno und sperrte die Scheunentür auf. Die beiden verschwanden darin. In der kleinen Scheune hinter dem Haus befanden sich der Hühnerstall, ein Lagerraum für den Pferdewagen und das Gartenwerkzeug, eine gemauerte Waschküche und ein Heuboden. Da Carlo Cherini schon vor Jahren sein Pferd verkauft hatte, wurde der Pferdewagen nur selten verwendet und der Heuboden stand leer. Fedora wartete, bis Bruno ihr in die Waschküche gefolgt war, dann schloss sie die Tür, zog die Vorhänge zu und zündete eine Kerze an.
»Wie kommt es, dass du auf See musst?«
»Setz dich zu mir«, sagte Bruno. Er nahm auf der breiten Bank Platz und erzählte in kurzen Worten von seinem Auftrag.
Fedora rückte näher und strich Bruno durch das Haar. »Du bist also den Berg hochgestiegen, um dich von mir für dreieinhalb Wochen zu verabschieden?«
Auch Bruno rückte näher. »Nur deswegen.«
»Ich fühle mich durch deine Aufwartung geschmeichelt.«
Bruno umfasste Fedoras Hüfte und schmiegte seine Wange an die ihre. »Und ich fühle mich geschmeichelt, weil du mich wieder in deine Waschküche eingelassen hast.«
»Ein Ort der Sauberkeit und Pflege.«
»Und ein Ort wiederholt erquicklicher Begegnungen.«
»Ich wäre dir monatelang böse gewesen, wenn du ohne Abschied zur See gegangen wärst.«
»Ich wäre monatelang untröstlich darüber gewesen.«
»Hast du einen Pariser dabei?«
»Ein kleines Päckchen der bewährten Marke Sigi befindet sich in der Innentasche meines Sakkos.«
»Du bist so gewissenhaft.«
»Es freut mich, dass du meine Tugenden schätzt.«
»Küss mich, Herr Inspector.«
*
»Wann kommt der Wagen?«
»Er kann jeden Moment hier sein.«
Heidemarie Zabini überblickte das bereitstehende Gepäck ihres Sohnes. Drei Koffer standen in der Stube seiner Wohnung. Darunter war neben zwei großen Koffern für die Kleidung auch der dunkelbraune Lederkoffer, den Bruno bei Tatortbesichtigungen stets dabeihatte. Heidemarie verschränkte die Arme. »Wirst du den Tatortkoffer brauchen?«
Bruno zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht, aber da ich dienstlich im Einsatz bin, möchte ich meine Kommissionstasche jederzeit in Griffweite haben.«
»Fährst du ins Arsenal?«
»Nein. Die Thalia hat ihren Liegeplatz am Molo San Carlo eingenommen. Das Schiff ist laut Plan in den Morgenstunden vom Arsenal in den alten Hafen gelaufen. Der Vorrat für die lange Reise ist an Bord, jetzt fehlen nur noch die Fahrgäste.«
»Und dieser Graf ist wirklich eine so bedeutende Persönlichkeit, dass er einen Wachmann braucht?«
»Offenbar. Sonst wäre mir nicht dieser Auftrag übertragen worden.«
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