»Ich nehme an, Sie haben sich mittlerweile oft gefragt, ob Frau Böhme Ihnen nicht doch einen Anhaltspunkt gegeben hat, was sie an jenem Tag vorhatte?«
»Ich habe mich Millionen Mal genau das gefragt. Ich weiß es nicht.« Mia starrte auf ihre Hände, die verkrampft auf ihrem Schoß lagen. Ihr Handy klingelte. Sie ignorierte es.
»Gehen Sie ruhig ran.«
Genervt kramte Mia es aus der Jackentasche.
»Hallo?«
»Lars hier. Du wolltest doch den Schrank anschauen?«
Dieser beknackte Schrank.
»Es ist was dazwischengekommen. Können wir das auf später verschieben?«
»Ich habe dir ja gesagt, es interessieren sich mehrere Leute dafür.«
Ein Kleiderschrank für 30 Euro, kaum gebraucht. Ihre Sachen lagerten seit Monaten in Kartons. Sie hatte kein Einkommen. Zumindest keines, das man so nennen könnte.
»Hör mal, ich habe gerade einen wichtigen Termin. Ich schaue später vorbei, in Ordnung?«
»Wie du willst, aber wenn das Teil dann weg ist …«
Mia legte auf.
Eyrich betrachtete sie nachdenklich.
»Ich habe auf eine Kleinanzeige geantwortet. Es geht um einen Schrank.« Sie steckte das Smartphone weg.
»Was geschah noch an jenem Abend?«
»Wir gingen mit André zu ihm rüber. Dabei fiel uns auf, dass Monikas Handy auf dem Nachttisch lag. Ausgeschaltet. Vielleicht war auch der Akku leer.«
Eyrich starrte in seine Unterlagen.
»War das ungewöhnlich? Dass sie ihr Handy zu Hause ließ, wenn sie wegfuhr?«
»Eventuell brach sie kurz entschlossen oder in Eile auf. Es stellte sich raus, dass sie sich den Nachmittag spontan freigenommen hatte.«
Eyrich nickte. »Könnte sein.«
»Sie war ein bisschen schusselig. Verlegte öfter ihren Schlüssel. Verwechselte Termine. Manchmal trug sie zwei verschiedene Socken. Rot und rosa. Oder so.«
»Ein sympathischer Zug.«
Sie sehen mir nicht so aus, als wenn Ihnen das passieren würde, dachte Mia. Der Mann war akkurat gekleidet. Edeljeans, Hemd, Pullunder. Nur an seinen Budapestern klebte noch Laub vom Wald.
»Nehmen Sie es mir nicht übel«, fuhr er fort. »Monika Böhme war zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 34 Jahre alt. Sie waren 18. Eine ungewöhnliche Konstellation für eine so enge Freundschaft.«
»Warum?« Mia fragte nur pro forma. Auf dem Altersunterschied war die Polizei damals schon herumgeritten.
Eyrich hob die rechte Hand, als wollte er sich entschuldigen. »Nun, junge Menschen treffen sich doch eher mit Leuten ihrer Altersgruppe.«
»Das heißt ja nicht, dass ich keine anderen Freunde in meinem Alter hatte. Aber ich mochte Monika sehr, und wir haben uns einfach gut verstanden. Ich konnte ihr alle meine Sorgen erzählen. Zum Beispiel, dass ich mit Mathe auf Kriegsfuß stand. Monika hat mir oft geholfen, sie war ein Mathe-Crack.«
Womöglich schluckte der Kommissar eine praktische Erklärung besser als das, was Mia damals so glücklich gemacht hatte: eine Freundin zu finden, der sie durch und durch vertraute und die nicht so oberflächlich war wie die Mädchen in Mias Schule, sondern eine Frau mit Reife und Tiefgang, die aber nicht die Härte und Autorität ihrer Mutter ausstrahlte.
Ich muss ihren Mörder finden. Es gibt nichts, was ich sonst für sie tun kann.
»Bevor die Böhmes in Ihre Nachbarschaft zogen, kannten Sie die Eheleute bereits?«
Das hatte er vorhin schon gefragt.
»Ja, meine Eltern und die Böhmes waren befreundet.«
»Aber Ihre enge Beziehung zu Monika begann erst, als die Böhmes nebenan wohnten?«
»Das stimmt«, antwortete Mia.
»André, ich muss noch wegen eines Kleiderschranks aus zweiter Hand in die Pödeldorfer Straße«, sagte Mia.
André hockte auf dem Gang, die Schultern hochgezogen, den Blick auf den Boden gerichtet.
»Schon gut, warte nicht auf mich. Das dauert sicher wieder ewig. Kennt man ja schon. Die werden mich in die Mangel nehmen. Mord. Da ist doch der Ehemann sofort unter Verdacht, stimmt’s?«
Mia blickte zu Kommissar Eyrich, der in der Tür zu seinem Büro lehnte und wartete, dass er mit Andrés Vernehmung loslegen konnte.
»Wir telefonieren, in Ordnung?«
»Klar.«
Sie ging den Gang hinunter. Fühlte sich wie in einem Albtraum, aus dem sie in Kürze aufwachen musste. Wie in den Nächten, in denen sie spürte: Ich träume doch, verdammt. Jetzt allerdings fehlte die Erleichterung, die sie sonst empfand, wenn sie aus dem Schlaf hochfuhr und feststellte: alles nur ein Traum.
Eyrich würde André grillen. Er würde umsichtig vorgehen, höflich, immerhin hatte André sich auf das Phantombild hin selbst bei der Polizei gemeldet. Doch schließlich würde er immer mehr Druck machen, denn André war nun einmal der Ehemann, und ein Großteil der Tötungsdelikte waren Beziehungstaten. Eyrich würde nach Details suchen, in denen man sich verheddern könnte, die dunklen Ecken der Erinnerung abtasten. Absurd nur, sich einzubilden, André könnte irgendjemandem den Kopf abhacken. Noch dazu seiner Frau!
Mia spürte Brechreiz in sich hochkommen. Welcher Mensch war überhaupt dazu imstande?
Sie musste das alles ausblenden, wenigstens für kurze Zeit. Irgendetwas Normales tun, und nicht an den Wald denken, an das Flatterband und an den Schädel. Der Schrank kam ihr da gerade recht.
Entschlossen stieg Mia auf ihr Rad und trat in die Pedale. Fünf Minuten später hielt sie vor der angegebenen Adresse in der Pödeldorfer Straße, einem mehrstöckigen Wohnhaus. Sie läutete bei »Obenhaus«. Tief drin im Haus hörte sie die Glocke schellen. Endlich riss jemand die Tür auf.
»Sorry, der Türöffner ist kaputt. Bist du Mia?«
»Die bin ich.«
»Lars. Du bist spät dran.«
Der Typ trug Cargohosen, ein ausgeleiertes Shirt und hielt seine blonden Locken mit einem bunten Stirnband zurück. Er mochte um die 30 sein, Typ Naturbursche.
Mein Gott, es geht um einen Schrank, dachte Mia. Nicht ums Überleben.
»Ging nicht anders. Tut mir leid.«
»Du hast Glück. Die anderen Interessenten haben abgesagt. Wegen der Maße. Die haben nicht gepasst.«
»Aha.«
Erzähl mir doch nichts. Du hast von Anfang an geblufft.
»Also komm mit.«
Mia folgte Lars durch einen engen Hausflur hinaus in einen Hinterhof.
»Im Hinterhaus liegt meine Werkstatt.«
Die typischen Bamberger Hinterhäuser, dachte Mia. Manche waren bessere Schuppen, andere zu Wohnhäusern ausgebaut. Man ahnte von der Straße aus oft nicht einmal, dass es diese Höfe gab, geschweige denn, was sich in ihnen verbarg.
Hier war es ein würfelförmiges Hinterhaus. Ein Schild, »Lars Obenhaus, Haushaltsauflösungen und Entrümpelungen«, war ein wenig schief auf das grün gestrichene Tor genagelt worden. Zum ersten Stock führte eine Außentreppe aus Holz. Auf der untersten Stufe hockte mit verschmitztem Grinsen ein aus Schrottteilen zusammengebastelter Osterhase. Hinter dem Gebäude ragte eine Birke auf und streichelte mit ihren zartgrünen Zweigen das Dach.
Er kramte in seinen Hosentaschen. »Eigentlich habe ich was Hochgeistiges studiert, aber die praktische Arbeit macht mir mehr Spaß. Ich habe ganz schön viel zu tun, beinahe zu viel für einen Ein-Mann-Betrieb. Man möchte nicht glauben, wie viele Haushalte gerade aufgelöst werden.«
Mia nickte. Ihre Höflichkeit war lange genug antrainiert, um ein Gespräch aufrechtzuerhalten, das sie nicht interessierte. Sie wusste nicht einmal, ob sie den Schrank überhaupt noch wollte. Allenfalls, um sich darin zu verkriechen und unsichtbar zu werden. Für Hauptkommissar Eyrich vor allem. Ihr Magen krampfte sich beim Gedanken an neue polizeiliche Vernehmungen zusammen. Die Ermittlungen hatten sich damals festgefahren. Es würde wieder so sein. Wo sollte man schließlich elf Jahre nach Monikas Tod neue Zeugen oder Beweise auftreiben?
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