Mit meinen Freundinnen sprach ich weder darüber, dass ich zu Hause regelmäßig die Weinflaschen meines Vaters ausleerte, noch darüber, dass ich im Internet immer häufiger gemobbt wurde. Denn zu all den Kämpfen mit meinem Vater kam in dieser Zeit noch erschwerend hinzu, dass mir über Monate hinweg online gedroht wurde, dass ich mir die schlimmsten Schimpfwörter, die man einer Frau geben kann, anhören musste, und dass mir sogar vorgeschlagen wurde, auf welche Art und Weise ich mir das Leben nehmen könnte. Schlimmer noch: Mir wurde sogar angeboten, dass man es, wenn ich es selbst nicht schaffen würde, auch gern für mich übernehmen könnte.
Bis heute weiß ich nicht, wer mir anonym all diese schrecklichen Nachrichten geschickt hat. Meine Scham darüber war zu groß, um den Fall zu melden oder auch nur meinen Eltern davon zu erzählen. Dass ich tatsächlich nicht irgendwann einen der Vorschläge annahm und mir etwas antat, gleicht für mich einem weiteren Wunder.
Doch irgendwann hielt ich den ganzen seelischen Schmerz nicht länger aus, weshalb ich mit 17 Jahren damit begann, mich selbst zu verletzen. Es folgten Monate, in denen ich mir erst nur ein wenig am Unterarm, doch irgendwann auch an den Beinen, Oberarmen und am Bauch mit einer Rasierklinge Schnitte zufügte. Der Schmerz schenkte mir für einige Sekunden Erlösung, bevor er sich in ein furchtbares Brennen verwandelte und ich versuchen musste, irgendwie die Blutung zu stoppen.
Was für ein schreckliches Chaos in einem Menschen vor sich geht, damit er zu so einer Tat fähig ist, darf einfach nicht kleingeredet oder gar ins Lächerliche gezogen werden. Es sind reine Taten der Verzweiflung und stumme Schreie der Hilflosigkeit.
An so vielen Abenden war die Klinge auf meiner Haut meine letzte Rettung, wenn ich es einfach nicht mehr aushielt, die Kontrolle zunehmend zu verlieren. Die ständige Angst, dass mein Papa wieder anfangen könnte zu trinken und dass meine Mama ihr Herz wieder an die Dunkelheit verlieren und in eine Depression abrutschen könnte, brachte mich innerlich schier um. Es fühlte sich an, als schleuderte mir mein Leben die angesammelte Angst und Verzweiflung der letzten 17 Jahre mit voller Wucht ins Gesicht. Und ich war zu schwach, um zu kämpfen. Ich war es leid. Ich konnte und wollte einfach nicht mehr kämpfen.
Die Dunkelheit meiner Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft fühlten sich wesentlich bedrohlicher an als der Gang hinab in einen kalten, stockdunklen Keller, und der Schmerz in meinem Herzen war stärker als jede äußerliche Verletzung, die ich mir jemals zugezogen hatte. Das Einzige, was diesen Schmerz kurzzeitig lindern konnte, waren die Klingen auf meiner Haut und das beruhigende Gefühl, das sich einstellte, wenn ich die Schmerzen endlich wieder unter Kontrolle halten konnte.
Zum Glück entdeckten meine Eltern eines Tages meine vernarbten Arme und ich wurde zu einem Psychologen geschickt. Er konnte mir jedoch mit einer wöchentlichen Sitzung nicht wirklich helfen, deshalb landete ich für einige Zeit auf der geschlossenen Station einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort diagnostizierten sie mir eine Persönlichkeitsstörung und eine mittelschwere Depression.
Danach verschrieb mir mein Hausarzt an meinem 18. Geburtstag Antidepressiva. So feierte ich an meinem 18. keine fette Party, sondern schluckte meine erste Pille. Ich will diese Entscheidung der Ärzte nicht verurteilen, denn sie war wichtig und wahrscheinlich auch notwendig. Denn nach dieser Zeit verletzte ich mich nie mehr wie zuvor, auch wenn mein selbstdestruktives Denken und Verhalten nicht völlig aus meinem Leben verschwand.
Die nächsten Monate fühlten sich wie ein Doppelleben an. Zu Hause gab es gute und schlechte Tage mit meinem Vater, in mir verdrängten die Arzneimittel jedoch meine Angst und von außen holte ich mir die Bestätigung von meinen Freunden und verschiedenen Typen, in die ich mich nacheinander verliebte. Es wurde normal für mich, an den Wochenenden exzessiv zu feiern, mich mit meinen Mädels schön zu machen und dann in die nächste Party zu stürzen.
Wenn ich jetzt an diese Zeit denke, tue ich mir einfach nur unbeschreiblich leid – vor allem, wenn ich mich daran erinnere, wie verzweifelt ich in den verschiedenen Augen der jungen Männer nach Hoffnung, Annahme und Liebe suchte. Von außen betrachtet wirkte ich wahrscheinlich wie eine normale junge Frau, die ihren eigenen Weg sucht. Ich tat das, was alle um mich herum taten. Denn wenn es nichts gibt, was einem noch Hoffnung geben kann, und man keine Garantie dafür hat, dass alles wieder gut wird, ist man eben auf sich allein gestellt – und tut all diese Dinge, um sich irgendwie lebendig und gehalten zu fühlen. Und wenn man nicht an einen Gott glaubt, der einen liebt und auffängt, und wenn unsere Sünden nicht aus der Perspektive Ewigkeit betrachtet werden, spielt dann ein ausschweifendes Leben überhaupt eine Rolle? Für mich jedenfalls nicht. Ich wollte nichts von Gott wissen und suchte woanders nach Liebe und Halt.
Mit 19 Jahren glaubte ich schließlich, in einem Hotel in Spanien die Liebe meines Lebens gefunden zu haben. Und vielleicht wäre Felix 2das auch gewesen, hätte das Leben anders gespielt. Wäre ich vorher nicht schon gebrochen worden und ein emotionales Wrack gewesen. Und hätte er später nicht still und heimlich immer mehr gekifft. Doch als er damals in Spanien meinen Arm, der wirklich von Narben übersät war, in seine Hände nahm und eine Narbe nach der anderen küsste, schenkte ich ihm mein Herz. Konnte er vielleicht wiedergutmachen, was mir widerfahren war?
Wir verliebten uns schnell ineinander und zogen nach nur wenigen Monaten Beziehung zusammen. Ich steckte all meine Träume und Sehnsüchte in diesen Menschen, verlor mich selbst in unserer Liebe und rutschte so von der einen Abhängigkeit in die nächste.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ständig versucht, das Leben meiner Eltern zu verändern und fühlte mich bisweilen sogar wie die Leibwächterin meines Vaters. Dadurch hatte sich die Lüge in mir festgesetzt, verantwortlich für die Menschen um mich herum zu sein. Ich glaubte, dass es meine Aufgabe war, meine Mitmenschen zu retten und sie vor jedem drohenden Unglück zu bewahren. Und das ganze Szenario aus meiner Vergangenheit spielte sich, wenn auch in harmloserer Form, ein weiteres Mal in der Beziehung mit Felix ab.
Mit 20 Jahren passierte dann etwas, das im Nachhinein betrachtet die Spitze des riesigen Eisbergs war, und verborgen unter der Wasseroberfläche staute sich die Last und der Schmerz der ganzen vorherigen Jahre.
Es war Juni und in Schwäbisch Gmünd, der Stadt, in der mein Freund und ich mittlerweile wohnten, fand eine große Veranstaltung statt. Auf den Plätzen und in den Gassen der Altstadt tummelten sich viele Menschen. Auf einem Platz war eine große Arena aufgebaut. Voller Begeisterung setzten wir uns in die Reihen der Arena, in der in wenigen Minuten eine Artistenshow beginnen sollte. Wir hatten sogar Plätze in der ersten Reihe ergattert. Ich erinnere mich noch daran, wie fröhlich und aufgedreht ich war. Ich war nun schon seit fast zwei Jahren wieder von den Tabletten weg, die meine wechselnden Launen und depressiven Verstimmungen hatten eindämmen sollen. Nach nur wenigen Monaten hatte ich sie aufgrund von schlimmen Halluzinationen und noch heftigeren Stimmungsschwankungen sowie einem zwischenzeitlich einsetzenden ekligen Gefühl der völligen Gefühlstaubheit wieder abgesetzt. Trotzdem hatte ich mich nicht mehr selbst verletzt, doch mit der Angst bekam ich es immer noch regelmäßig zu tun. Sie war mein ständiger Begleiter – immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Tief in mir hoffte ich jedoch, dass die Zeit schon alle Wunden heilen würde.
Schließlich ging die Artistenshow los und völlig fasziniert sah ich den Männern auf der Bühne zu, die ihre Kunststücke vorführten und mich damit kurzzeitig in eine andere Welt entführten. Ich war glücklich, denn ich war abgelenkt. Und ich glaubte fest daran, in diesem Sommer endlich die Kurve kriegen zu können und den sehnlichst erwarteten Wendepunkt in meiner Geschichte zu erleben. Der kam zwar tatsächlich einige Monate später, aber überwältigend anders als gedacht.
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