Als ich dann 16 Jahre alt war, bekam ich die ersten Panikattacken. Ich hatte Angst davor, am Abend die Tür hinter mir zu schließen und mich schlafen zu legen. Der anstrengende Alltag durch die immer wiederkehrenden Diskussionen mit meiner Mutter hatte mich einige Monate zuvor auf die Idee gebracht, nach 15 Jahren das erste Mal zu meinem Vater zu ziehen. Und am Anfang ging auch alles gut. Denn er war – wie viele Male zuvor – gerade wieder trocken.
Wir genossen die Zeit zusammen und das Glück schien auf unserer Seite zu sein. Doch irgendwann kippte die Stimmung und mein Papa begann wieder zu trinken. Und ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr wie zuvor. Er schlüpfte wieder in eine komplett andere Rolle und in diesem „Spiel“ vergaß ich irgendwann, wer von uns beiden Täter und wer Opfer war. Mein Verantwortungsbewusstsein für ihn hatte sich noch einmal um ein Vielfaches verstärkt, und brach die letzten gesunden Grenzen zwischen uns endgültig auf. Immer wieder kam es zu schmerzhaften Diskussionen. Ich schüttete heimlich den Alkohol ins Spülbecken oder verschloss die Wohnungstür und wollte meinen Vater so davon abhalten, loszugehen, um sich neuen Alkohol zu besorgen.
Es kam zwar nur sehr selten zu wirklich bedrohlichen Situationen, denn mein Papa wurde zum Glück nie gewalttätig, doch es kam immer wieder zu Momenten, in denen er sich selbst in Lebensgefahr brachte – etwa, wenn er betrunken Auto fuhr. Das alles überforderte mich maßlos.
All die Monate bei ihm verdrehten das Bild, das ich von ihm hatte, immer wieder neu. Er war doch mein Papa und ich liebte ihn, und für mich war er nüchtern nach wie vor einer der größten Helden der Welt. Doch immer, wenn ihn die Dunkelheit wieder einholte, übertrug ich all seinen Schmerz auf mich selbst, wusste nicht mehr, wo hinten und vorne war und verstand meine Gefühle ihm gegenüber selbst nicht mehr. Auch er war nur ein Opfer seiner eigenen Verletzungen, doch gleichzeitig war er auch ein Täter, der für meine Verletzungen verantwortlich war. Ich wusste nicht mehr, was ich fühlen und glauben sollte.
So wurde ich oft wütend und panisch, wenn sich mein Vater vor mir schlafen legte. Aufgebracht versuchte ich, ihm Abend für Abend irgendwie verständlich zu machen, dass ich nicht einfach nur trotzig war und er mich nicht für verrückt halten sollte. Es war doch alles nur wegen dieser wahnsinnigen Angst in mir ... Ich wollte mich nicht schlafen legen, weil ich das Gefühl hatte, dann die Kontrolle zu verlieren. Doch so verzweifelt wie ich war, fand ich selten die richtigen Worte und anstatt meine Hilfeschreie verständlich zu artikulieren, schmiss ich nur mit zornigen Worten um mich. Viele Abende liefen so ab, dass ich vor Angst zu ersticken drohte, während mein Papa sich nur kopfschüttelnd schlafen legte. Ich wollte die Kontrolle nicht abgeben, weil ich Angst hatte, dass ihm oder mir dann etwas Schlimmes passieren könnte. Doch das alles konnte und wollte ich ihm nicht erklären, denn ich wollte nicht, dass er sich schuldig fühlte. Wie sollte ich ihm auch erklären, wie sehr ich ihn liebte und gleichzeitig seine Sucht hasste?
Mittlerweile weiß ich, dass ich schon damals tief in einer sogenannten Co-Abhängigkeit steckte und alles versucht hätte, um meinen Vater zu retten. Eine Co-Abhängigkeit kann leicht bei Angehörigen von Suchtkranken entstehen. Das Leben eines Co-Abhängigen ist ebenfalls von der Sucht überschattet und deshalb eng mit dem Suchtverhalten des Partners oder des Verwandten verstrickt. Dabei entwickeln die Angehörigen des Suchtkrankten ihre eigenen Strategien im Umgang mit der Sucht, die ihnen jedoch letztlich selbst schaden. Dazu gehört zum Beispiel das zwanghafte Kontrollieren des Suchtkranken und die verzweifelten Versuche, ihn mit aller Macht vom Konsum abzuhalten, sowie die großen Bemühungen, das Suchtverhalten des anderen nach außen hin zu verdecken, wodurch sie sich selbst zunehmend in die Bredouille bringen. Das ganze Leben dreht sich nur noch um den Suchtkranken und damit wird der Co-Abhängige zum Mitgefangenen seiner Sucht. Und so auch ich.
„Co-Abhängigkeit hat viele Gesichter. Steht zu Beginn noch im Vordergrund, das Verhalten des Suchtkranken zu entschuldigen und diesen zu beschützen, folgt oft eine Kontrollphase. In dieser versucht der Co-Abhängige, den Kranken am Drogenkonsum oder Suchtverhalten zu hindern – meist erfolglos. Sein Scheitern mündet in Wut oder Resignation und schlägt dann häufig in Schuldzuweisungen, Drohungen und Ablehnung um. Diese einzelnen Phasen können, müssen aber nicht aufeinanderfolgen. Der Co-Abhängige befindet sich in einem zermürbenden Wechselbad aus Liebe und Hoffnung, Enttäuschung, Wut und Abscheu“ 1, lautet eine offizielle Definition von Co-Abhängigkeit. Und ich kenne jedes einzelne Gefühl davon. Weder Wut und Abscheu sind mir fremd noch bedingungslose Liebe und immer wieder zerstörte Hoffnung. All diese Gefühle prägten meine Kindheit und Jugend.
Vor zwei Jahren fand ich zudem heraus, dass ich von meiner Geburt an hochsensibel bin. Durch diese Erkenntnis wurde mir auch klar, wie intensiv ich all den Schmerz damals regelrecht aufgesogen haben musste, und wie jeder Konflikt, jede Not und jede negative Stimmung mich über alle Maßen fertiggemacht und überfordert hatten. Das Wechselbad der Gefühle in einer Co-Abhängigkeit potenzierte sich bei mir demnach noch und brachte mich an die Grenzen des Erträglichen.
Als ich Jahre später mit meiner Mutter über diese Zeit sprach, erzählte sie mir, dass sie mich damals immer wieder angerufen und mich angefleht hatte, kommen zu dürfen, um mich zu holen. Doch ich habe ihr immer nur gedroht, dass sie keinen Schritt durch die Eingangstür wagen dürfe und ihr energisch versichert, dass ich schon alles im Griff habe.
Wir schaffen das schon!, glaubte ich immer. Und dachte nicht einmal daran, dass es überhaupt nicht meine Aufgabe war, es mit ihm „schaffen“ zu müssen. Mich trieb die unermessliche Hoffnung an, dass mein Vater den Weg raus aus der Sucht finden würde, dass ich nur Geduld haben müsste und ihm meine Hilfe bestimmt guttun würde. Die Liebe ist ewiglich, dachte ich. Und so verwechselte ich Abhängigkeit mit Liebe. Die Grenzen zwischen Fürsorge und totaler Aufopferung, Mitleid und Wut verschwammen immer mehr und die Auswirkungen dieser gefährlichen Co-Abhängigkeit sollten noch jahrelang mein ganzes Denken und Fühlen prägen. Nicht einmal im Traum dachte ich damals daran, dass mir später echte Liebe begegnen und Gott mir zeigen würde, was „die Liebe ist ewiglich“ wirklich bedeutet.
Mein Verantwortungsbewusstsein für meinen Vater vermischte sich mit dem Druck, mir nur nichts anmerken lassen zu dürfen. Zu Hause ging ich durch die Hölle, doch in der Schule setzte ich mein schönstes Lächeln auf. Und in alldem glaubte ich an Eines ganz fest: Mein Papa würde wieder gesund werden! Er hatte schließlich auch immer wieder gute Tage, die mich darin bestärkten, dass es das Richtige war, bei ihm zu bleiben. Doch meine innere Taubheit, das Gefühl der völligen Machtlosigkeit und die vielen Ängste in mir sorgten dafür, dass ich in der zehnten Klasse die Schule immer seltener besuchte. Wie ich dennoch einen guten Realschulabschluss schaffte, ohne viel am Unterricht teilgenommen zu haben, gleicht für mich heute einem Wunder. Denn mein emotionaler Zustand verschlechterte sich immer mehr.
Wie viele andere Jugendliche in meinem Ort, schlich ich mich am Wochenende auf Partys, trank Alkohol und küsste verschiedene Jungs. Immer und immer wieder schaffte ich es so, den Schein einer normalen Jugendlichen zu wahren und mich von den Dramen zuhause abzulenken.
Eigentlich ist es verrückt, dass ich trotz alldem, was der Alkohol in meinem Leben bis zu diesem Zeitpunkt schon angerichtet hatte, selbst zur Flasche griff. Natürlich trank ich nicht so exzessiv wie mein Vater, aber ich trank aus schlechten Motiven heraus und manchmal auch tatsächlich zu viel. Auch wenn der Konsum von Alkohol in Deutschland legal ist, ist das Konsumverhalten so vieler Menschen extrem gefährlich.
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