Der vereinsamte Künstler warf sich auf sie, besinnungslos. Sie war fort, ein großer Bock blieb ihm in den Händen. Er schleppte ihn mitten auf die Wiese, er packte den dürren Hals des Tieres, das ihn gelb und klar ansah. Er schrie ihm seine Wut ins Gesicht, seine besinnungslose Brust, seine Enttäuschung, sein Leiden um die eine, die ihm entfloh in den Taumel all jener Gestalten. Er hatte sie nicht gefaßt, sie war vielfältig. Sie war weder die Nymphe noch die Mänade, sie war ebensogut auch der Faun und der Brunnen, oder eine Biene – »oder auch du!« … Und er kniete vor dem Bock, in Drang, Verzweiflung, überwältigender Ahnung.
(1902) Roman. Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy, S. 620ff .
Die Jagd nach Liebe
JUGENDLICHE LIEBESTOLLHEIT *
Mit fünfzehn hatte er, ein schwächlicher, verträumter Junge, auf Sofas gelegen und weinend das Schicksal befragt, ob er je die Glieder einer Frau um sich fühlen werde. Plötzlich hatte er sich entschlossen und gleich eine ganze Menge an Gliedern zu fühlen bekommen, gegen bar. Mit sechzehn hatte er Ute begehrt, nur sie, mit einer Angst und einem Geheimnis, die ihn bleich machten und ihm eine Levikokur eintrugen. Mit siebzehn hatte er sich die erste Modistin angeschafft. Mit neunzehn hatte er die Frau Kahn gehabt, eine Amerikanerin, die bei seiner Mutter verkehrte; oder vielmehr sie ihn. Nun war er zwanzig, und nun lebte er mit Ute. Jeder Schritt, den er machte, jeder Gedanke, in den er einlenkte, führte zu ihr. In ihrem Kopf konnte kein Bild entstehen, in das nicht seine, Claudes Gestalt getreten wäre. Mit fünfzehn, als er zweimal wöchentlich eine andere Kokette probierte, schwamm es im Horizont immer von Brüsten und Beinen. Es war die kurze Zeit, als jedes neue Weib, für Claude ein Paradies gewesen war. Für den Herrn Panier war es das noch mit vierundsechzig. Aber woher strömte der märchenhafte Frühling, in den gebadet nun Claude umherging? Aus Einer, nur aus der Einen. Zum ersten Mal im Leben fühlte er sich fast gesund. Er sah sich an jedem Morgen im sicheren Besitz des ganzen Tages, der voll vom Zerspringen war von ihren Worten, ihrem überlegenen Lachen, ihrem gerollten R., ihren an das Haar erhobenen Händen, ihrem Schritt – voll von ihr!
Eine alte Blumenverkäuferin beim Kontrollor in Nymphenburg, die den jungen Mann seiner Begleiterin nicht gewachsen fand, sagte einmal: »’s tut halt nix ’m Menschen so gut wie’s Mailüfterl.« Und Claude griff sich an die Schläfen, so überwältigt war er von dieser einfachen Wahrheit.
(1903) Roman. Die Jagd nach Liebe, S. 90f .
»Eine Künstlerin, die sich verliebt, wirklich und ganz verliebt – das war nie eine«, behauptete Ute, hoch und stolz.
»Wofür hältst Du mich denn? Ich bin ja verwöhnt durch die Kunst. Das Studium der Leidenschaften für die Bühne hat mich klarsichtig gemacht, ich weiß ja, was jeder bieten könnte. Hast du dir das nie gesagt? Stell dir vor, ich sollte einen von diesen Leuten lieben, einen dieser halben Männer, mit ihren Lächerlichkeiten, Schwächen, Unredlichkeiten, einen Pömmerl, Killich – Nun, und dich?« fragte sie langsam, mit mitleidigender Grausamkeit.
Er senkte den Kopf. Aber dann brach es heraus, wund, überreizt, mit elend hinausgereckten Armen, ein Notschrei.
»Du irrst dich. Ich könnte lieben!«
Ute zuckte die Achseln.
»Aber ich nicht. Ich sehe manchmal mit Staunen den andern Frauen zu. Sie lieben, weil sie den Mann nicht kennen – aus Dummheit. Ich hab mich schon gefragt, ob ich sie beneide, ob ich auch soweit herunterkommen möchte. Nein, nein. Das ist ja ein Wahnsinnskeim, den eine in sich trägt. Bei Gelegenheit eines unwichtigen Mannes geht er auf. Ich hab ihn nicht in mir, was willst du. Ich bin vielleicht ein Monstrum?« »Ja«, sagte Claude hart.
»Bin ich’s? Dann ist auch mein Körper eines. Was er für Angst, für Empörung leidet, bei der Annäherung des Mannes – oh, das wirst du nie erfahren. Und was ich meinem Ehrgeiz, meiner Kunst für Opfer bringe … Aber ich tu’s, ich bin stark.«
Da erblickte er das Elend ihrer Stärke. Es weinte ihm auf die Hände. Er stammelte, bebend von Mitleid, mit ihr, mit sich.
»Aber mich – warum nicht wenigstens mich lieben, der um dich weiß. Bin ich zu schlecht, wie die andern?«
»Du bist mir am nächsten, du bist mein Bruder. Da, gib mir die Hand.«
Er wich zurück, gequält. »Ich will nicht mehr.« »Ich liebe dich, wie ich kann. Ich brauche dich, fühle mich wohl in deiner Anbetung und komme in kalte Wut, wie in Düren, wenn du mich verrätst. Das genügt dir nicht? Gib mir deine Hand.«
»Ich will nicht mehr.«
Er besann sich. Drohend: »Du weißt, was ich will. Ich geh nicht weg, ohne dich gehabt zu haben.«
Sie rückte den Kopf, ganz rasch: »Du machst mich bös.«
»Das ist mir ganz einerlei, darüber sind wir zwei hinaus …«
Er feuerte sich an, sträubte sich dagegen, die Tat versäumt zu haben.
»Ich hab die Macht!«
»Hör doch auf mit deiner Macht!« Sie geriet in Wut.
»Weil du ein Mann bist? Ich bin keinem unterworfen, weißt du, dir am wenigsten. Weshalb duld ich dich? Weil du keine breiten Schultern hast, und mich nicht durch eine Übermacht von Männlichkeit bedrohst. Was kannst du denn?«
»Ich werde dich umstoßen – wie vorhin.«
Er warf sich wieder zum Sturm vor. Sie floh bis vor das Badekabinett. Auf der Schwelle wendete sie sich ihm zu; die Arme gekreuzt, erwartete sie ihn. Sie rief: »Und nachher? Denkst du an das Nachher? Wenn du dann schlaff bist. Du Elender, und die tödliche Beleidigung liegt zwischen uns – ahnst du die ganze Verachtung des Fußtritts, womit ich dich von mir schieben werde, hinunter vom Bett! Dann sind wir fertig … Wir sind überhaupt fertig!«
»Ja. Fertig sind wir, so oder so. Also –«
Aber sie umfaßte hart sein Handgelenk. »Nein! Geh!«
Und in ihren Augen der kalte Wille zwang auf einmal all seine erkünstelte Kraft zum Hinknien. Sie fühlte sein Handgelenk mürbe werden und ließ es los. Sie wies, über ihr Bett hinweg, auf das Fenster: »Geh!«
Er tappte rückwärts hin, lehnte sich an das Fensterbrett. Er warf einen verzweifelten Blick hinaus auf den leeren, nur von Nacht begrenzten Platz aus Wiese und Lehm. Dieser unbebaute, zertretene Vorstadtboden bedeutete das verwahrlosende Leben des Ungeliebten, in das sie ihn verwies. Wie sie schön war. Er machte einen Schritt, die Hände bittend erhoben. Die Flamme in ihren Augen drohte kälter, ihr Finger befahl. Claude zuckte die Achseln; er ließ sich aus dem Fenster gleiten, besiegt, trostlos. Er trollte sich, gesenkten Kopfes, bis ans andere Ende des Platzes. Dort blickte er um, fand ihr Fenster noch immer erleuchtet und offen.
»Ich kann ja umkehren …«
Aber er legte beide Hände übereinander vor die Stirn …
In den vergangenen Minuten war ihr Fenster – hatte er ihr Zimmer einst erstürmt und erbrochen, er? – unzugänglich geworden, als läge es im fünften Stock.
(1903) Roman. Die Jagd nach Liebe, S. 352ff .
»All meine Sehnsucht drängt nach den Starken, die das könnten, nach den Condottieri des Lebens, die in einer einzigen Stunde ihr ganzes Leben verschlingen und glücklich sterben. Anstatt uns nun trübe zu verlaßen, hätten wir heute früh zusammen sterben sollen, o Gemma!«
Mario Malvolto unterbrach sich.
»Und warum nicht heute abend?« rief er in den durchglühten Schatten zwischen zwei Rosenbüschen. »Warum nicht übermorgen, oder jeden anderen Tag, den wir glücklich waren!«
»Bedenke einmal, Freund, daß du da eine schlicht bürgerliche Niedertracht begehst! Du möchtest das Mädchen, das du genossen hast, in Bälde los sein, du enthüllst ihr geheime Ärmlichkeiten, die nur dich angehen. Du hast kein Recht dazu. Da du sie einmal aufgenommen hast wie ein Starker, da du sie wie ein Stück Beute in dein Schlafzimmer geschleppt hast – tu deine Schuldigkeit und bleibe stark! Sie ist zu dir gekommen wie zu einem der Künstler von früher, die zwei Frauen gleichzeitig vollauf befriedigten, eine auf der Leinwand ihrer Staffelei und eine auf der ihres Bettes. Im Grunde hast du Angst, diese oder jene könne deiner Gesundheit schlecht bekommen. So stirb an ihr! Das Wunder ist für dich geschehen. Es ist dieses Wunder namens Frau, aus einer üppigeren und jäheren Welt, der von deiner Sehnsucht entzauberten, hervor und in dein Zimmer getreten. Du hast es begrüßt; nun glaube es! Nun glaube, daß es dich erlöst, und bist du zu schwach zu glauben, dann stirb doch dafür, ohne deinen Zweifelmut zu verraten, wie ein Märtyrer, der sich ohne rechte Überzeugung, aber schweigend ans Kreuz nageln läßt!«
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