Meinem Körper gefielen die neuen Umstände ebenso wie meiner Familie. Ich wurde langsamer, achtsamer, aufmerksamer, ich nahm wieder mehr von der Faszination meines heranwachsenden Kindes wahr und hörte meiner Frau besser zu. Ich musste weniger brüllen, der gesamte Sport erzeugte weniger Druck. Das bemerkte ich auch beim Sprechen. Es fühlte sich leichter an, ich sprach automatisierter. Meine Schmerzen ließen Woche für Woche nach, es gab Tage, an denen ich meine Operationen im Mund komplett vergessen konnte. Ich dachte zum ersten Mal, die Krebsoperationen und ihre Folgen nicht nur erfolgreich in einem Hinterzimmer meines Gedächtnisses verstaut zu haben, sondern sie vielmehr endlich wegwerfen zu können. Die Schmerzen verschwanden aus meinem Alltag. Auch die lähmenden Erinnerungen und verborgenen Ängste verließen meinen Körper, und in weiterer Folge auch meinen Kopf.
Auch wenn ich diese Zeit als beruflichen Stillstand empfand, feierte mein Körper seine Wiederauferstehung .
Nicht, dass ich achtsamer mit mir und meinem Körper umging, nein, die Umstände ließen einfach nicht denselben Rhythmus, dieselbe Frequenz, dieselbe Intensität der Jahre davor zu. Die Pausen wurden länger. Es tat mir gut. Berufliche Bescheidenheit war angesagt, ich fühlte mich nicht für eine eventuell stagnierende sportliche Entwicklung in dieser Saison verantwortlich, niemand hatte Erwartungen. Als diese reduzierte Saison dann dennoch alle Erwartungen übertraf und wir als Team, vor allem im Nachwuchs, so erfolgreich wie noch nie waren, fand ich zahlreiche Gründe für den Erfolg – nicht jedoch die Tatsache, dass längere Pausen, vermehrte Ruhezeiten und Gelassenheit der Schlüssel zum Erfolg gewesen sein könnten.
Leider befüllte ich die Pausen aber intuitiv – ich wollte sie nutzen .
Ich hatte zu meinem 30. Geburtstag mein erstes Rennrad geschenkt bekommen. Das Radfahren bekam nun eine neue Qualität für mich, es wurde meine Leidenschaft. Bis dahin war ich entweder laufend oder schwimmend als Ausdauersportler unterwegs gewesen. Die Monotonie dieser beiden Fortbewegungsarten schränkte mich in meiner Aufmerksamkeit und Wahrnehmung der Umgebung ein. Ich lief entweder mit einem Tunnelblick meine immer gleichen Runden oder zählte die Fliesen im Wasser. Von unserem Haus aus joggte ich immer zwischen 30 und 75 Minuten, je nach zeitlicher Möglichkeit. Nach ein paar Jahren fand ich keine neuen Laufstrecken mehr. Schwimmen im Hallenbad war zudem ein No-Go für mich, seit ich hauptberuflicher Trainer war – jede weitere Minute an meinem Arbeitsplatz kostete mich zusätzlich Energie. Die wenigen Sommertage, in denen ich in das benachbarte Freibad springen konnte, reichten nicht aus, um mir Schwimmen als dauerhaftes Ausdauertraining schmackhaft zu machen.
Das Radfahren hingegen brachte mich auch wieder enger mit meinem Bruder Philipp zusammen. Mein kleiner Bruder, der immer im Schatten meines sportlichen Ehrgeizes gestanden hatte, der Schwierigkeiten hatte, mit mir sportlich Schritt zu halten und den ich dies auch immer spüren ließ, begleitete mich nun häufig auf meinen Touren. Ich genoss seine Anwesenheit und stellte fest, dass er ein außerordentlich ausdauernder Radfahrer war. Ich war meinem Bruder in vielerlei Hinsicht dankbar, vor allem für seine Zuneigung meinen Kindern gegenüber. Hannah und Lukas liebten Phips. Er war immer an ihrer Seite, nicht häufig anwesend, aber immer zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle. Onkel Phips war unheimlich großzügig den Kindern gegenüber, vor allem kümmerte er sich ebenso sehr um Lukas wie um sein Patenkind Hannah. Durch unser gemeinsames Radfahren konnte ich ihm etwas Aufmerksamkeit und Zuneigung zurückgeben.
Das Rennradfahren schenkte mir eine neue, bisher nicht gekannte Freiheit. Ich fuhr oft mehrere Stunden aus, meine reduzierten beruflichen Verpflichtungen erlaubten mir auch lange Radtouren. An den Vormittagen, nach dem Frühtraining, erforschte ich mit meinem Rennrad Salzburg und seine Umgebung. Meine Energie schäumte über. Vermindertes Arbeiten, umfangreiches Ausdauertraining und privates Glück – mein Leben fühlte sich perfekt an. Ich begann, alle befahrbaren Wege, Straßen, Anstiege und Abfahrten in der Umgebung der Stadt zu erkunden. Ich liebte die Abwechslung, die mir das Rennradfahren bot, den Geruch des frisch geschnittenen Grases, die Herausforderung der unterschiedlichen Landschaften, und die abwechslungsreichen körperlichen Anstrengungen, die meine Ausfahrten mir boten, tilgten meinen Hunger nach Freiheit. Der ständige Wechsel zwischen den Intensitäten verwischte jede Monotonie, die ich vom Laufen oder Schwimmen her kannte. Ich radelte einfach drauflos, meist auf die umliegenden Berge, es gab keine Vorgaben, nur die Landschaft Salzburgs und mich. Die Umgebung, der Wind und das Wetter steckten mir meine Grenzen ab, sonst niemand und nichts. Heute so, morgen komplett anders, auch wenn die Ausfahrt dieselbe war. Ich kümmerte mich nicht um Geschwindigkeiten, Wattzahlen oder Steigungen, ich fuhr einfach drauflos und nahm alle Herausforderungen dankend an. Ich inhalierte zum ersten Mal in meinem Leben das allumfassende Gefühl der wohltuenden Einsamkeit, die jeder Radfahrer im Laufe seiner stundenlangen Ausfahrten sowohl zu lieben als auch zu hassen beginnt.
In meinem Beruf arbeitete ich mit Menschen und deren sportlicher und persönlicher Weiterentwicklung. In meiner Funktion als Lehrbeauftragter und als Trainer sprang ich in die Rolle der Führungskraft. Ich leitete eine Gruppe, meine Mannschaft und übernahm Verantwortung für mein Team. Das stundenlange einsame Radfahren kompensierte diese Aufgabe meines Berufs. Ich konnte mich treiben lassen, musste nicht sprechen, war nicht für Inhalte zuständig, gehorchte nur den Anforderungen der Natur und meines Körpers.
Radfahren gab meinem Kopf Zeit, sich zu erholen .
Meinen Körper dagegen forderte ich .
Mit Fortdauer der immer längeren, anspruchsvolleren und belastenden Ausfahrten wuchsen auch die Herausforderungen an meinen Körper. Die Anstiege wurden nie leichter, ich wurde aber zusehends schneller. Hatte ich anfangs für eine Tour über das Rossfeld drei Stunden benötigt, war mein Ausflug drei Monate später um 30 Minuten kürzer. Ich wurde leistungsfähiger, mein Körper und mein Stoffwechsel passten sich an die Belastungen an, aus der anfänglichen Erholung wurde ein forderndes Training.
Die Uhr entwickelte sich wieder zum Gradmesser meiner Sporteinheiten, der Trainingsreiz bestimmte in der zweiten Hälfte der Saison 2010/11 meine Ausflüge. Eine komplette Tageshälfte nutzte ich nun für mein Training. Vor der Entdeckung meines Fahrrads hatte ich mich nur 30 bis 60 Minuten täglich belastet; mit dem Fahrrad entwickelten sich daraus mehrere Stunden. Aus sportlichem Erleben auf dem Rennrad wurde sportliches Training am Limit. Der Erlebnisfaktor blieb zwar weiter vorhanden, jedoch befriedigte ich zusätzlich meinen sportlichen Ehrgeiz. Die vollbrachte Leistung spornte mich an und trieb mich vorwärts. Einmal Leistungssportler, immer Leistungssportler.
Ich trainierte, als wäre ich 20 Jahre jünger .
Als Trainer setzte ich meine sportlichen Ziele für mein Team hinunter, niemand konnte von uns etwas Besonderes erwarten, sogar ich war inzwischen erfahren und nüchtern genug und wusste, dass unsere ehrgeizigen Ziele mit halbem Training nicht zu realisieren waren. Die nationalen und regionalen Höhepunkte dieser Saison empfand ich als zu monoton, die immer gleichen Wettkämpfe stillten meinen Hunger nach Erfolg nicht ausreichend. Es fehlten sportliche Höhepunkte, ich vermisste das elektrisierende Adrenalin meiner ersten Trainerjahre. Um das Feuer wiederzufinden, beschloss ich, im Frühjahr des Jahres 2011 selbst wieder bei Wettkämpfen an den Start zu gehen. Ich war 36 Jahre alt und wollte noch einmal das Adrenalin eines Wettkampfes als Leistungssportler erleben, die Ausbelastung körperlich spüren.
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