Sie ist eine Fremde. Das sagt er sich selbst. Eine Fremde, mit der er zufälligerweise ein Kind hat, einen erwachsenen Mann, der gerade jetzt auf seinem Rennrad durch Berlin fährt. Das Fahrrad stand nicht im Torweg, als er kam. Das nimmt er zur Kenntnis, auch, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Das, weshalb er gekommen ist, involviert drei Personen und vielleicht ist der Sohn nur für eine Besorgung draußen und kommt gleich zurück.
Er hat den ganzen Tag Wasser in sich gekippt und das letzte Glas bringt seine Blase dazu, zu reagieren. Im Bad ertappt er sich dabei, die Hand gegen die Wand zu stützen und als er die Hand wegnimmt und seinem Blick im Spiegel begegnet, ist er entschlossener, als er sich fühlt. In dem Spiegelregalfach steht ein Zahnputzbecher mit einer Bürste und einer Tube Zahnpasta, ein zweites Fach enthält ihre Cremetiegel und eine Flasche des üblichen Eau de Cologne. Kein Rasierzeug, kein maskulines Deodorant, nichts, das verrät, dass auch ein Mann in der Wohnung wohnt. Als er zurückkommt, ist die Küche leer. Drinnen im Wohnzimmer sitzt sie auf einem Sofa, das seinem eigenen in Kopenhagen ähnelt, ein Schlafsofa, er geht davon aus, dass es seinem Zweck entsprechend gebraucht wird. Der niedrige Sofatisch ist mit einer Glasplatte bedeckt. Auf dem Glas liegt ein Schlüsselbund, unter ihm liegen Zeitungsausschnitte. Bilder von Vorstellungen. Von ihr. Von anderen Kollegen. Von ihm selbst. In der Mitte ein Bild vom Dramatiker mit der gewöhnlichen runden Brille und der Zigarre.
– Wo ist er?
– Woher soll ich das wissen? Er hat einfach seine Schlüssel dahin geworfen, er hat keine Spur hinterlassen.
– Sie beugt sich runter und zieht eine Schublade unter dem Sofa hervor.
– Leer, sagt sie. – Du kannst in den Schrank da gucken, wenn du mir nicht glaubst.
Das Lachen balanciert auf der haarscharfen Grenze zum Weinen. Sie schnieft, findet eine Papierserviette in der Kimonotasche und putzt sich die Nase.
– Du hast mich zu einer Lügnerin gemacht, sagt sie. – Als ob es nicht besser wäre, einen toten Vater zu haben, als einen Vater, der ein Scheißkerl war.
– Ich habe dich zu nichts gemacht. Du hast selbst entschieden, was du ihm erzählen wolltest.
Die Schublade, die sie unter dem Sofa hervorgezogen hat, gafft leer. Im Badezimmer war keine Spur von ihm. Vielleicht stimmt es, was sie sagt. Eine Konfrontation. Eine Auseinandersetzung. Es wird mit Türen geknallt, Anschuldigungen, Drohungen, Verwünschungen werden ausgesprochen und Entscheidungen getroffen. Sich loszusagen. Abstand zu halten. Genauer betrachtet, hat er dafür keine Verantwortung, aber tief in sich weiß er, dass er es sich zu leicht macht. Wenn es tatsächlich passiert ist, hat sich der Junge entschieden, keine Mutter mehr zu haben. Ob er einen Vater hat, der für etwas anderes als leere Gesten gut ist, ist eine andere Frage. Rückblickend wird es zu deutlich. Ihm ein Rennrad aufzudrängen, war übertrieben, nahe daran lächerlich zu sein, aber die Situation ist nicht zum Lachen, sie ist vor allem traurig und er weiß nicht, was er tun kann, um die Überreste zu retten. Falls da etwas zu retten ist.
– Ich weiß nicht, was ich sage, sagt er. – Entschuldige.
Sie schnieft wieder.
– Verschwindet er, habe ich nichts mehr, sagt sie. – Und er wird verschwinden. Nicht nur deinetwegen, dieses verfluchte Land hier ist das Paradies der Heuchler. Das ist es immer gewesen, jetzt ist es schlimmer, als es jemals war.
Die Wut lässt sie stammeln.
– All die scheinheiligen Arschlöcher. All jene, die ihren Heiligenschein putzen. Ich übergebe mich über sie. Dieses verfluchte Land hier. Jetzt kann man es plötzlich sagen, aber das Land gibt es nicht mehr und die Leute sind nur damit beschäftigt, sich daran zu bereichern und ich rede nicht davon, Fahnen oder Parteisymbole zu verkaufen, nein, du, jetzt waren sie alle zusammen Dissidenten, sie riskierten ihren Hals, keiner war ein Mitläufer, niemand hat jemanden verraten, niemand hat irgendeine Verantwortung.
Das Fenster hinter ihr steht sperrangelweit offen, der Vollmond gießt Silberlicht über ihre Schultern in dem weißen Kimono. In diesem Licht ist sie eine Erinnerung an die Schönheit, die sie einmal war und die sowohl Genies als auch Mittelmäßigkeiten dazu brachte, ihr zu verfallen. Uwes verbrauchtes Gesicht gleitet vor seine Netzhaut und er kann sich irren, aber ihre Tirade lässt ihn glauben, dass er Fragen stellen soll.
– Warum hast du es getan?
Damals, als sie zusammen gelebt hatten, war sie ohne harte Kanten, mädchenhaft und es war angenehm mit ihr auszukommen, jetzt ist sie eine gereizte Katze. Geschärfte Krallen, den Kopf zurückgelehnt, in einem Augenblick bleckt sie ihre Zähne.
– Was getan? Ein kurzes, trockenes Lachen. – Ich habe so viel getan. Ich war tüchtig, sagten sie. Du bist tüchtig. Hier hast du etwas Geld, etwas Westgeld, um im Intershop einzukaufen. Ein neues Sofa, sagst du? Kein Problem.
– Bagatellisieren. Bagatellisieren. Eigener Gewinn, ein paar Vorteile, das machte den Alltag ein wenig leichter und wenn man sich einbilden konnte, dass man gleichzeitig der Sache nützte, dass man den Frieden und den faktisch existierenden Sozialismus unterstützte, war das nicht so schlimm. Eine leicht undurchsichtige Geschichte, wie so viele andere, nichts, woraus man eine große Sache machen würde. Wenn er ihre Erklärung kaufte, könnte es dort aufhören, aber irgendein Unterton hält ihn zurück.
– Du sagst nichts, sagt sie. – Du sitzt da auf deinem hohen Ross und glaubst, du hättest das Recht, mich zu verurteilen.
– Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.
Sein Mund ist wieder trocken. Raus in die Küche, den Hahn laufen lassen, das Glas füllen. Trinken. Als er zurückkommt, steht sie am Fenster. Das Mondlicht hüllt sie in Eisblau und die Hitze des Raumes fühlt sich plötzlich weniger stickig an.
– Habe ich etwas anderes getan? Warum, fragst du, und ich gebe dir die Erklärung. Was willst du sonst noch haben?
– Die Wahrheit.
– Die Wahrheit. Sie äfft das Wort nach. – Wo bekommst du diese Klischees her?
Sie hatten nie eine Auseinandersetzung, als sie zusammenwohnten. Sie waren beide gut darin, sich anzupassen, auf den anderen zu warten, dem anderen zuvorzukommen, ihren Alltag, ihren geschäftigen, arbeitsreichen Alltag, so unkompliziert wie möglich zu machen. Es gibt keine Fußspuren, in die man treten könnte, keine Routine für Konfrontationen und unter allen Umständen ist die Situation neu.
– Können wir das auf diese Weise sagen? fragt er und er kann selbst hören, dass er provokativ ruhig klingt. – All das, was du sagst, wirkt, als wolltest du, dass ich dir irgendwie auf den Leim gehe, nur um mich loszuwerden? Können wir sagen, dass ich glaube, dass du voller Lügen bist?
– Du glaubst, du weißt etwas, sagt sie. – Du weißt einen Scheiß.
Er hat sich auf das Sofa gesetzt und jetzt steht sie hinter ihm. Er nimmt den schwachen Duft Eau de Cologne wahr, hört ihre Atemzüge kürzer werden und hat sie sich bewaffnet? Wird ihn ein Lampenfuß fertigmachen, wird die Polizei eine Erklärung annehmen, dass sie in Notwehr gehandelt hat, ein Einbrecher, ein Vergewaltiger? Er wartet nicht auf die Antwort, stattdessen streckt er eine Hand nach hinten und bekommt ihr dünnes Handgelenk zu fassen. Sie taumelt über den Sofarücken und landet neben ihm. Der Kimono ist zur Seite gerutscht. Ihr nackter Körper ist offen und wehrlos und ihre Hände sind leer.
– Ach so, du wolltest mich gar nicht umbringen.
Es ist Einbildung, das weiß er. Es geht nur in seinem eigenen Kopf vor sich, aber in diesem Augenblick bricht sie mit einem Laut, wie ein Zweig, der abgebrochen wird. Sie ist ein Zweig, den er abgebrochen hat, jetzt kann er ihn benutzen, wie er will. Mit ihm wedeln, jemanden damit gegen den Kopf schlagen. Ihn verbrennen.
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