Uwe lacht, aber das ist nicht lustig.
– Sechs Jahre, sagt er. – Es wurde leichter, als ich mein Urteil bekommen hatte. Alles war leichter als Hohen. Schön. Hausen.
Er betont jeden Buchstaben, so als würde er Figuren auf einem Schachbrett aufstellen, peng, peng, peng.
– Weißt du, wie das ist, nicht zu wissen, wo du bist? Ich meine nicht, wenn du gerade aufgewacht bist. Immer, Tag und Nacht. Niemand weiß, wo du bist und du selbst weißt es auch nicht.
Mein Leben ist so gewesen. Das denkt er und gleichzeitig weiß er, dass das eine beschönigte Lüge ist. Verglichen mit Uwe, hat er nichts, worüber er sich beklagen kann. Drei hungernde Tage in Wien sind ein Spaziergang neben dem, worüber Uwe redet und was er mit noch einem Wodka aus der Flasche, die auf dem abgenutzten Sofatisch beschlägt, runterspült. Eine Stehlampe hinter dem Sofa ist die einzige Beleuchtung im Zimmer. Das Fenster ist hermetisch verschlossen und die Hitze des Tages liegt wie eine erstickende Decke darüber, er braucht Luft.
– Darf ich das Fenster öffnen? fragt er.
Das ist der erste Satz, der aus seinem Mund kommt, seit Uwe vor einigen Stunden seinen Monolog begonnen hat und es klingt wie ein Witz. Die Welt geht unter und wie wäre es mit einem Spaziergang im Wald.
Uwe schüttelt den Kopf.
– Erträgst du es nicht? fragt er. – Hast du einige Jahre gefroren, ist es so, wie du es haben willst.
Uwes Scheitel und Stirn sind mit Schweißperlen bedeckt, wie er selbst aussieht, kann er nur erraten. Er hat Atemnot und in seinem Kopf bewegt sich ein messerscharfer Suchscheinwerfer. Stoppt einen Moment bei etwas, irgendetwas, aber bevor er es fokussieren kann, hat er sich zu etwas Neuem bewegt. In der Flasche auf dem Tisch ist noch ein Rest am Boden. Uwe nimmt sie und setzt sie an den Mund, leert sie in einem schlürfenden Zug.
– Wenn du noch Durst hast, sagt er. – Wir können jemanden besuchen. Es ist nicht so, dass wir miteinander verkehren, aber sie wohnt direkt um die Ecke.
Direkt um die Ecke. Er kennt die Adresse. Auf der Reise hierhin hat er an sie gedacht, aber es fiel ihm schwer, einen Grund zu finden, sie aufzusuchen. Sie war eine alte Geschichte, eine, mit der er mal vor einer Ewigkeit eine Affäre gehabt hat und die er verlassen hatte. Nicht weil er wollte, nicht wegen ihr, es ist wahr, was er im Brief geschrieben hatte, es war wegen ihm selbst. Jetzt hat Uwe sie aus den Schatten heraufbeschworen, sie sitzt zwischen ihnen auf dem Sofa. Das rotblonde Haar schimmert im Lampenlicht, die schmalen Lippen sind feucht, bereit, um zu küssen, ein Kuss, der offenbar mehr als ein gewöhnlicher Kuss sein konnte, falls man Uwe glauben konnte und warum sollte er es nicht? Uwe wirkt nicht wie ein paranoider Mythomane und das, was er sagt, macht furchtbar, unwiderlegbar Sinn.
– Niemand weiß, wo du bist. Uwe wiederholt die Worte. – Zu jedem Schritt, den ich da drinnen gemacht habe, hat sie mich verurteilt. Zu jeder Nacht in Kälte. Zu jedem Tag in einer Zelle aus Gummi, die keine Ecken hatte, wo du in der Dunkelheit in deiner eigenen Scheiße und Pisse liegen und vergessen konntest, wer du bist. Keine Ecken. Du weißt nicht, wo oben und unten ist, zum Schluss hast du vergessen, dass du überhaupt existiert hast.
Er kann sie riechen, so als wäre sie wirklich. Eau de Cologne, darin hat sie ihren Körper gebadet, wenn sie sich morgens gewaschen hat, sie goss es über die Handgelenke, bevor sie zur Bühne ging, das nahm die Spitze der Nervosität, sagte sie. Jetzt sitzt sie neben ihm und falls sie nervös ist, zeigt sie es nicht.
– Ich glaube nicht, dass sie so weit gedacht hatte. Uwe stellt die Flasche weg. – Ich glaube nicht, dass sie diese Art Fantasie hatte. Aber ich wollte sie dafür umbringen. Als du verschwunden bist, hätte ich das tun können, es wäre leicht gewesen, sie nach einer Vorstellung abzupassen, an einem späten Abend. Ich hätte sie erwürgen und mir dafür Zeit nehmen können. Sie auslöschen und ihre Augen schließen. Sie hat auf mich mit Verachtung gesehen, ich war ein Wurm, den sie mit dem Absatz zerquetschen konnte. Ein paar Monate hatte ich Fantasien von dem Schrecken in ihren Augen, wenn ich ihr die Hände um den Hals legte. Erst als irgendwer sagte, dass sie schwanger war, gab ich auf, das Kleine hatte mir ja nichts getan.
Sie rückt sich auf dem Sofa zurecht, zieht die Beine unter sich und fasst sich um die Knie, spreizt die Oberschenkel und etwas kommt aus ihr raus, etwas Lebendiges. Etwas, das zappelt und schreit und sein Leben hat keine Ecken mehr. Sein Leben ist dunkel und Dunkelheit hat keine Ecken. Irgendwo in der Dunkelheit redet Uwes Stimme weiter, aber er hört die Wörter nicht mehr und zum Schluss hören sie auf.
Uwe ist halb vom Sofa geglitten, als er sich vom Sofa hochwinden konnte und sich zur Tür tastet. Die Treppe ist dumpf unter seinen Füßen und er stolpert und gleitet die letzten Stufen auf den Fersen und dem Steißbein runter. Es tut weh, aber es weckt ihn, zumindest so weit, dass er in der Lage ist, zu gehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Es ist immer noch warm draußen und Leute schlendern auf den Bürgersteigen, kleine Gruppen auf dem Weg raus oder nach Hause. Ein junger Kerl mit einem viel zu großen Hund kommt ihm entgegen. Der Hund zerrt an der Leine, als sie ihn passieren, bleckt die Zähne und knurrt und er muss seine Lust bekämpfen, den Hund in die Rippen zu treten, ihn über den Bürgersteig fliegen zu sehen und ihn jammern zu hören. Er hasst Hunde, er weiß, dass das ungerecht ist, Hunde sind weder schlimmer noch besser als ihre Besitzer, aber es ist nicht der Besitzer, der die Zähne in jemandes Oberschenkel schlägt.
Die Fassade am Haus um die Ecke ist noch dieselbe. Selbst jetzt, Jahrzehnte später, sind dort Flecken, wo der Putz nach der Druckwelle einer Bombe abgeplatzt ist und die nackten Mauersteine entblößt hat. Die Jahre haben dem Ganzen eine Art besänftigende Patina verliehen, aber im Grunde ist das Haus dasselbe. Besser als das, in dem er in der Bernauer Straße wohnte, schlechter als das, in dem er jetzt wohnt, das auch eine alte Arbeiterwohnung ist, aber eine, die keinen Bombenangriff erlebt hat.
Hier hatten sie eine eigene Toilette mit Waschbecken, sodass sie nicht gezwungen waren, sich in der Küche zu waschen, ein richtiges Schlafzimmer mit Platz für einen Kleiderschrank. Ein Schlafzimmer, in dem eine Wiege gestanden hat. Wo sie sich über sie gebeugt und das Kind, das darin lag, getröstet hat. Wo sie das Kind ins Bett hochgehoben hat und eine Brustwarze in einen schreienden Mund gestopft hat. Die Zinkwanne in der Küche, in der sie Windeln ausgekocht, im Waschbecken ausgespült hat, sodass die Hände in dem kalten Wasser blau wurden, und sie auf der Wäscheleine unten im Hof aufgehängt hat. Er sieht sie vor sich, die Windeln, weiße Stoffstücke, wie Friedensflaggen, im Wind wehend. Am Tisch, wo sie frühstückten und ein Stück Brot und einen Rest Wurst nahmen, wenn sie nach einer Vorstellung spät nach Hause kamen, hat ein Kinderstuhl gestanden. In dem Stuhl ein Kind. Das Kind ist ein diesiger Fleck, er kann die Konturen nicht erkennen. Vielleicht ist das dort ein Kopf, eine rundliche Hand, ein Fuß in einer Socke, aber er kann keine Farben sehen, kein Haar, nichts, das das Geschlecht verrät, er sieht das Kind wie durch ein vereistes Fenster. Er kennt keine kleinen Kinder, hat sich nie für sie interessiert, Kinder lagen außerhalb seines Horizonts. Ein Kind, das eine Mischung aus seinen und Evas Genen ist, kann er sich nicht vorstellen. Wenn er sich anstrengt, ist es ein Klischee aus einer Fernsehwerbung für Wegwerfwindeln, das er sieht, kein richtiges Kind. Erst recht keins, das etwas mit ihm zu tun hat. Er weiß nicht mehr über das Kind oder ihr Leben, als das, was Uwe liefern konnte, bevor der Alkohol ihn verstummen ließ und zu dem Zeitpunkt hatte er selbst aufgehört zuzuhören.
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