Wenn er die Sekunde genutzt hätte, in der der Mann in der Tür zu verwirrt ist, um zu verstehen, was da passiert, wenn er die wenigen Schritte zum Tor so schnell wie möglich genommen hätte, wenn er das Tor hätte zufallen lassen und in vollem Galopp die Straße entlang gehastet wäre, hätte er so tun können, als wäre nichts passiert.
Er ist stehengeblieben. Die blauen Augen sehen ihn misstrauisch an.
– Wo ist mein Fahrrad?
Was er auch sagen wird, es wird seltsam klingen, also sagt er nichts. Er zeigt auf das Fahrrad, versucht es mit einer Art Lächeln, von dem er den Eindruck hat, dass es eher einer Grimasse gleicht.
– Das ist nicht meins. Mein Fahrrad. Wo ist es?
– Ich habe es geliehen. Endlich bekommt er etwas hin, das wie ein Satz klingt. – Das war unverschämt und ich hätte es nicht tun sollen. Es ist etwas mit ihm passiert und du bekommst stattdessen das hier.
Sie stehen einander genau gegenüber. Der Mann, der sein Sohn ist, ist nur einige Zentimeter größer, aber es fühlt sich so an, als würde er sich auftürmen.
– Das ist ein teures Fahrrad. Meins war ein Schrotthaufen.
– Nimm es als Entschuldigung. Man soll keine Fahrräder stehlen.
– Woher weiß ich, dass das hier nicht gestohlen ist?
Er fischt den Umschlag unter dem Kabel raus und streckt ihn vor. Die Hände, die ihn entgegen nehmen, haben lange Finger. Ihre Finger, nicht seine, aber die Bewegungen, als er den Umschlag mit den Fingerspitzen aufmacht, sorgfältig, ohne aufschlitzen und reißen, könnten seine eigenen sein.
– Ich verstehe nichts.
– Das ist nicht notwendig. Nimm es an. Es ist ein Geschenk. Das Letzte hätte er nicht sagen sollen.
– Das ist viel zu viel wert. Ich kann es nicht annehmen.
Hier bekommt er ein Luxusfahrrad angeboten, dass er sich selbst niemals leisten könnte und dann ziert er sich. Irritation steigt in ihm auf, nimm doch das Fahrrad, du Dummkopf und lass es uns hinter uns bringen. Du nimmst das Fahrrad, ich gehe und wir müssen nie wieder etwas miteinander zu tun haben.
Das rote Haar hängt heute lose herunter, jetzt sammelt der Kerl es im Nacken und macht mit einer schnellen Bewegung ein Haargummi aus seiner Hosentasche um den Pferdeschwanz.
– Geschenke von einem Wildfremden, das stinkt nach, ich weiß nicht was.
Es kommt aus seinem Mund, bevor er es aufhalten kann.
– Von wem würdest du dann ein Geschenk annehmen?
– Was meinen Sie?
In der Pause hört er seinen Atem, der klingt, als wäre der Sauerstoff dabei auszugehen. Der ganze Sauerstoff auf der Welt. In wenigen Sekunden wird ihm schwarz vor Augen werden, er wird ohnmächtig werden und wenn er aufwacht, wird der Mann mit dem Pferdeschwanz weg sein. Das Fahrrad wird weg sein, er wird auf einer Trage liegen und das Heulen einer Krankenwagensirene über seinem Kopf hören. Auf dem Weg irgendwohin, wo niemand Forderungen stellt.
Aber er wird nicht ohnmächtig. Stattdessen sagt er etwas.
– Würdest du ein Geschenk von deinem Vater annehmen?
Er hätte eine Faust in das sommersprossige Gesicht vor sich hämmern können, das hätte keine größere Wirkung haben können. Die blauen Augen vom Schock aufgerissen, die weichen, jungenhaften Züge ziehen sich zu einer Grimasse zusammen.
– Mein Vater ist tot.
Er erträgt es nicht, das zu sehen. Er dreht sich um, um zu gehen, aber er kann keinen Fuß bewegen und während er dort steht, kommen die Tränen.
– Hilf mir. Das ist das einzige, was ihm einfällt, den blauen Augen zu sagen. Seinen eigenen Augen in einem fremden Gesicht. – Hilf mir.
Den einen Fuß vor den anderen, wie gehen lernen, aber keine liebevollen Hände warten auf ihn, keine Stimme sagt, komm schon, du kannst es, noch einen Schritt und noch einen. Niemand klatscht in begeisterte Hände, oder tätschelt ihm den Kopf, oder tröstet ihn, wenn er unbeholfen fällt, und fallen tut er. Stolpert, zögert, steht auf, stolpert und fällt. Ein Paar blaue Augen verfolgen den Prozess, beobachtend, registrierend. Misstrauisch. Wie man einen Fremden beobachtet, der sich bemüht, bekannt zu wirken. Ein Wesen von einem anderen Planeten, das einen hilflosen Versuch unternimmt, seine grüne Haut und die unkleidsamen Antennen zu verstecken. Er ist ein Fremder. Er hat in diesem Teil des Waldes nichts zu suchen, wo andere Regeln herrschen und wo er nicht damit rechnen kann, für bare Münze genommen zu werden.
Dann sitzen sie dennoch an einem Tisch im Café gegenüber und es stehen Kaffeetassen auf dem Tisch. Kaffeetassen und zwei Gläser Wasser, das eine ist fast schon leer. Aber da sind nicht nur Tassen und Gläser auf dem Tisch. Auf der braunen Tischplatte zwischen ihnen liegen zwei Leben und es sieht aus, als hätte ein Kind einen Turm aus Klötzen gebaut, hoch, hoch und dann dem Turm einen Tritt gegeben.
Wie sie über die Straße gekommen sind, weiß er nicht. Aber jetzt sitzen sie dort und an den anderen Tischen kauen die Leute auf Wurstbroten herum und trinken Kaffee, wie an einem ganz normalen Tag. Im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sitzen zwei Männer nebeneinander, einer mit dunkler Mähne über einem zerfurchten Gesicht, der andere jünger, mit dunkelroten Haaren und blassen, sommersprossigen Wangen. Ihre vier Augen haben dieselbe Farbe wie das Hemd des Älteren.
Hemdsblau, denkt er. Und er denkt, wie soll ich das erklären?
Er lässt die beiden Männer nicht aus den Augen. Er wartet darauf, dass einer der beiden die Stille durchbricht, aber keiner der beiden hat offensichtlich etwas beizutragen. Schließlich sagt der Ältere von ihnen etwas.
– Kannst du nicht einfach Fragen stellen?
– Was soll ich fragen?
Das kommt wie ein Schlag, niemandem wird etwas geschenkt, aber das Schweigen ist durchbrochen. Er wendet den Blick vom Spiegel dem Gesicht neben sich zu, einem verletzlichen Gesicht, jünger als das Alter, das man leicht ausrechnen kann.
– Ich wusste es nicht.
– Wusstest was?
Dass du unterwegs warst. Dass du geboren werden würdest. Dass du zur Welt kommen und im Voraus verurteilt sein würdest. Deinen Vater nicht zu kennen, mit dem Wissen aufzuwachsen, dass da vielleicht ein Mann in der Welt herumlief und dem du ganz egal warst. Oder mit einer Lüge aufzuwachsen. Dein Vater ist tot. Dein Vater war ein Held, ein Schurke, ein Opfer. Alles andere als die Wahrheit.
Ich habe alle Verbindungen gekappt, das war leicht und wie die Dinge lagen, hielt mich nichts zurück. Ich weiß nicht einmal, ob mich der Gedanke an dich, gebremst hätte. Wenn er sagen kann, wie es ist, kann er alles sagen und vielleicht ist das seine Rettung. Die Worte kommen wie Klumpen, er spuckt sie aus, kann sie nicht im Mund haben. Aber sie kommen und dann ist es überstanden.
– Ich kann es nicht beschönigen, sagt er. – Es war, wie es war. Ich habe es selbst gewählt, ich übernehme die Verantwortung dafür. Ich konnte nicht bleiben. Wenn ich geblieben wäre, hätte es mich getötet. Hin und wieder gibt es Dinge, die man einfach weiß und das wusste ich.
Neben ihm ist Stille, lange Finger zupfen an einer Zuckertüte herum, ein Zeigefinger gleitet über die Seite einer Kaffeetasse.
– Ich hatte nicht die Absicht, zurückkommen zu wollen. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich weiß nicht, ob ich es bereuen soll. Ich bin nicht gekommen, um deine Mutter aufzusuchen, ich bin nicht deinetwegen gekommen, weil du nicht existiert hast. In meinem Kopf wurdest du gestern erst geboren.
Plötzlich lachen sie beide.
– Jetzt trinken wir Kaffee, sagt er. Und gleich stehe ich auf und gehe durch die Tür da. Wenn du mich nicht wiedersehen willst, ist das deine Entscheidung. Aber falls du es willst.
Er findet die Karte des Hotels in seiner Hemdtasche und legt sie auf den Tisch. Leert seine Kaffeetasse. Die Knie sind aus Gummi, aber er hält sich zumindest aufrecht.
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