Ist es im Stich lassen, wenn man nicht weiß, dass man jemanden im Stich lässt? Er ging, ohne zu wissen, dass sie schwanger war. Er liebte sie nicht und ein Kind wäre nur eine weitere Bestätigung dafür gewesen, dass er in einer unmöglichen Situation festsaß, doppelt eingesperrt von inneren und äußeren Kräften, dazu verurteilt sich anzupassen.
Es sieht aus, als wäre dort oben Licht, ein schwacher Widerschein, als läge jemand im Schlafzimmer und läse bei offener Tür. Das Fenster zur Straße ist einen Spalt weit geöffnet, es muss nach einem Tag wie diesem, der dabei ist zu Ende zu gehen, warm unter dem Dach sein. Auf dem Schild mit den Klingeln stehen keine Namen, nur Etagennummern und links und rechts. Er weiß, wo er klingeln muss, aber warum sollte sie ihn reinlassen, warum sollte sie überhaupt ihre Tür für einen Fremden zu dieser Zeit am Tag öffnen und was sollten sie zueinander sagen?
Ach, jetzt kommst du. So circa dreißig Jahre zu spät. Auferstanden aus Ruinen.
Er dreht sich um, um zu gehen, als er jemanden hinter sich bemerkt. Ein junger Mann hält ein Fahrrad mit einer routinierten Hand in Balance, während er mit Schlüsseln klimpert. Er bekommt die schwere Tür auf und zieht das Fahrrad in den Torweg und er hat das schon tausend Mal vorher gemacht, so, und so. Bevor die Tür hinter ihm zufällt, dreht er sich um.
– Wollen Sie rein?
Wenn er nein sagt, wird die Tür zufallen und er in irgendeiner Form von Sicherheit draußen auf dem Bürgersteig stehen, aber er kann nicht nein sagen.
Wie kann man zu seinen eigenen Augen nein sagen? Nicht einmal, wenn sie am Kopf eines anderen Menschen sitzen, kann man nein sagen.
Drinnen im Torweg leuchtet nur eine schwache Lampe und der Bursche ist schon drinnen im Treppenhaus, nimmt die Treppe in langen, kraftvollen Schritten, wie er selbst die Treppe damals genommen hat, dasselbe Tempo, dieselbe Energie. Er folgt ihm und der Rücken unter dem hellgrauen T-Shirt ist muskulös, die Armmuskeln sind gut trainiert. Das Haar ist rot, eine dunkle, dramatische Farbe und es ist länger als sein eigenes jemals gewesen ist, ein glatter Pferdeschwanz legt sich um den Nacken. Er bleibt auf der Etage darunter stehen und hört, wie dort oben ein Schlüssel in das Schloss gesteckt wird.
– Ich bin zu Hause.
Eine andere Stimme, schwächer. Es werden Worte gewechselt dort oben und er geht die letzten Schritte die Treppe hoch. Steht vor der Tür und horcht, schamlos, spioniert bei ihnen, die seine Familie hätten sein können, sein Leben, aber es nicht wurden.
Müde. Nicht hungrig. Schlafen, sagt die junge Stimme hinter der Tür, ein Echo von etwas, das er sich selbst hat sagen hören.
Etwas ist gut gegangen, etwas mit Musik vielleicht. Er kann nicht mehr hören, aber jemand geht drinnen umher. Wasser läuft und etwas, vielleicht ein Möbel, schabt über den nackten Boden. Dann wird es still.
Das Licht im Treppenhaus ist längst ausgegangen. Er drückt den Kontakt und hört das kleine Ploppen, aber das Türschild verrät nichts. Evas Nachname, derselbe wie damals, kein Vorname, keine Initialen. Unten im Torweg steht das Fahrrad. Ein solides Modell, aber keine Luxusausgabe wie sein Kopenhagener, das per Hand hergestellt und das Beste war, das er auftreiben konnte. Das hier ist graugrün und leicht ramponiert, vielleicht ein ehemaliges Militärfahrrad. Alles kann hier zu Geld gemacht werden, heute Morgen hat er ein Souvenirgeschäft nach dem anderen mit alten Flaggen und Uniformdetails, Orden und Symbolen, Stücken der Mauer passiert. Es muss genauso viele davon geben, wie es Splitter von Christi Kreuz gibt, also warum nicht ein Fahrrad von der dahingeschiedenen Volksarmee.
Sein Sohn sollte mit einem ordentlichen Fahrrad fahren.
Sein Sohn. Die Worte haben sich ohne sein Zutun in seinem Kopf geformt, aber selbst wenn er sich entscheiden sollte, das zu ignorieren, ist es ein Fakt. Ein erwachsener Mann mit seinen Genen fährt mit dem Fahrrad in Berlin herum, auf dem Weg von dem einen Ort zum anderen, für die ein oder andere Besorgung und spät am Abend steuert er seinen roten Pferdeschwanz durch den Torweg und trampelt die Treppen zu der Wohnung hoch, die er immer noch mit seiner Mutter teilt, dem Spitzel. Der Verräterin, die einen alten Liebhaber schnurstracks in die Hölle geschickt hat.
Weiß er das? Das dürfte kaum etwas sein, mit dem sie prahlt, aber in diesen Zeiten kommen Geheimnisse eines Tages raus. Archive werden geöffnet, Decknamen enthüllt. Draußen in dem kleinen Hof, wo zu seiner Zeit einer der Nachbarn Gemüse angebaut hatte, hat man eine Grünfläche angelegt. Auf einem Fliesenplatz steht ein Bohlentisch mit dazugehörigen Bänken neben einer grob gemauerten Feuerstelle. Es könnte sein eigener Hof in Kopenhagen sein, wo Sanierungen die alten Viertel verwüsten und die Bewohner raus in die Ghettos im Nordwesten und Westen jagen, wenn die Miete zu teuer wird.
Oben im Schlafzimmer ist das Licht gelöscht worden, das ganze Haus liegt in Dunkelheit. Er setzt sich auf eine der Bänke und stützt die Ellbogen auf den Tisch. Der Kopf ist schwer in seinen Händen. Die Tränen, die auf die Tischplatte fallen, kann er nicht aufhalten.
Warum weine ich? Er hört sich selbst den Satz laut aussprechen. Er wiederholt ihn und er hat keine Antwort.
Als es hell wird, steht er draußen vor dem Tor. Das Fahrradschloss war primitiv, eine der Funktionen des Schweizer Taschenmessers brachte es so leicht wie nichts zum Aufklicken und er schwingt sich auf den Sattel und strampelt durch die leeren Straßen fort. Es ist noch früh, das Poltern der Straßenbahn ist das einzige Geräusch, das er auf seinem Weg zum Hotel hört, wo ihm ein Nachtportier mit ausdruckslosem Gesicht seinen Schlüssel aushändigt und er weiß, wie er nach vielen Stunden des Trinkens riecht, dafür braucht er keinen Nachtportier, der ihm das sagt. Einige Stunden schweißtreibenden Schlafes später, steht er unter der lauwarmen Dusche, auf dem Weg seine normale Temperatur zurückzubekommen. Er öffnet das Badezimmerfenster und stellt sich davor, ohne sich abzutrocknen, die Luft draußen ist bereits quälend warm. Auf der anderen Seite des kleinen Luftschachts schüttelt eine Frau mit Kopftuch einen Staublappen aus und zieht ihren Kopf beim Anblick seines nackten Körpers ein. Unten im Restaurant ist das Personal dabei, abzuräumen und er kann sich gerade noch eine Tasse Kaffee schnappen, der nach zu vielen Stunden auf der Wärmeplatte schmeckt, dann ist er unterwegs.
Das Fahrrad steht da, wo er es abgestellt hat und es verrät ihm, dass der gestrige Tag kein Produkt seiner Fantasie war. Der Besitzer ist sicher jetzt aufgestanden und der Beginn seines Tages ist zweifellos dadurch verkompliziert worden, dass dort kein Fahrrad stand und wartete. Der Tagesportier, eine eifrige, junge Frau in einer tief ausgeschnittenen Bluse, gibt ihm ein paar Adressen und eine Stunde später ist er der Besitzer eines silbernen Rennrades, eine tausendprozentige Verbesserung des Diamants, das damals seine Flucht bezahlt hatte. Vielleicht muss es etwas justiert werden, aber ihr Körperbau ist nicht so unterschiedlich, soweit er das nach dem schlecht beleuchteten Treffen beurteilen kann. In einem Café mit Aussicht auf die vernarbte Fassade trinkt er den ersten richtigen Kaffee des Tages und schreibt einen Zettel.
Ich habe gestern dein Fahrrad geliehen. Hoffe, das hier gefällt dir.
Keine Unterschrift. Den Zettel steckt er in einen Umschlag, den er dafür gekauft hat, zusammen mit der Quittung und dem Code für das Schloss, damit niemand denkt, es handele sich um Diebesgut. Er schreibt den Nachnamen darauf, dann geht er schräg über die Straße und setzt den Finger auf einen zufälligen Klingelknopf. Der dritte Versuch klappt. Die Tür summt wütend, er zieht das Fahrrad in den Torweg und befestigt es an einem Haken in der Mauer. Während er den Briefumschlag unter dem Bremskabel festklemmt, geht die Tür zum Treppenhaus auf.
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