Ich muss zugeben, dass ich jeden Menschen verstehen kann, der dieser Versuchung erliegt. Auch in mir weckt das sagenhafte Pferd den brennenden Wunsch, auf seinen Rücken zu klettern und eins mit ihm zu werden, mit ihm über den silbernen Wasserspiegel des Sees zu galoppieren wie ein ungebändigter Sturm. Ein tiefer, alles verzehrender Zauber geht von ihm aus. Doch da ist etwas anderes in meinem Herzen, das noch ungleich schwerer wiegt: die Sehnsucht nach meinem Liebsten!
Ob der Kelpie das ahnt? Was, wenn ich zum Schein auf sein Angebot eingehe? Dann komme ich vielleicht nahe genug an ihn heran, um ihn doch noch zu bezwingen.
»Du hast recht«, murmele ich deshalb in verklärtem Tonfall und lasse meine Hände mit dem Schleier sinken. »Ich werde dir vertrauen.«
Schritt für Schritt gehe ich näher. Dabei beobachten mich die tiefdunklen Pferdeaugen ganz genau. Sie sind das Einzige, was noch an den verwahrlosten Mann im Wald erinnert. Derselbe Schmerz, dasselbe abgrundtiefe Leid liegt in diesem Blick.
Als ich bis auf wenige Schritte herangekommen bin, spüre ich, dass der Moment gekommen ist – jetzt oder nie! Blitzschnell springe ich auf das liegende Pferd zu und werfe meinen Brautschleier über seinen Kopf. Doch der Kelpie ist schneller. Mit der Geschwindigkeit eines Dämons fährt er herum, schlägt seine Zähne in den Stoff und springt auf. Wütend funkelt er mich an.
Nein! Meine einzige Waffe im Kampf gegen die Bestie ist verloren. Jetzt bleibt mir nur noch eines: Ich muss um mein Leben schwimmen. Hastig raffe ich den Saum meines Hochzeitskleids und renne zum Wasser. Der See greift nach mir, umspielt meine nackten Füße, zieht mich in seine nassen Arme. Ich lasse mich ganz hineinsinken, greife weit aus, um möglichst viel Raum zwischen mich und den Kelpie zu bringen. Dabei weiß ich, dass ich schon jetzt verloren habe. Ich bin wie eine Motte in einem Spinnennetz, die sich mit jedem Strampeln nur noch weiter ins Verderben reißt. Dort, tief unter mir, in der fadentiefen Schwärze, verschlingt das Monster seine Opfer. Und genau dorthin schwimme ich. Verzweifelt richte ich meinen Blick zum Gipfel des Berges. So nah und doch so unendlich fern!
Liebster, in einer anderen Welt werden wir zusammen sein!
Ob er mich sehen kann, wie einst ein anderer junger Mann, der den Todeskampf seiner Braut beobachtete? Ich weiß nicht, ob es Tränen oder Wassertropfen sind, die bei diesem Gedanken über meine Wangen rinnen.
Eine Welle schwappt von hinten über mich hinweg. Ich kann nicht anders, als mich umzudrehen. Da sehe ich den Kelpie nur wenige Armlängen von mir entfernt. Lediglich sein Kopf und der muskulöse Hals ragen aus den schwarzen Fluten. Ein Schleier aus reiner Angst legt sich über meine Sinne. Meine Schwimmzüge werden langsamer. Ich wappne mich für den Angriff, das letzte Aufbäumen meines zum Tode verurteilten Körpers, den Schmerz.
Nichts davon geschieht. Stattdessen schließt der Kelpie zu mir auf. Ich spüre die Wassermassen, die von seinen Hufen aufgewirbelt werden. In seinen Augen jedoch liegt weder Gier noch Hass. Erneut wendet er seinen Kopf in Richtung seines Rückens. Er will immer noch, dass ich auf ihm reite. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht.
»Wie?«, frage ich atemlos. »Wie ist deine Braut gestorben?«
Die breite Unterlippe des Hengstes bebt. Ein melancholisches Schnauben dringt aus seiner Kehle, wobei sein Blick auf den See hinausschweift. Erst sehe ich nichts dort, doch dann bemerke ich, dass die Wassermassen sich in der Mitte leicht kräuseln. Luftblasen steigen dort hervor und mit jeder weiteren Sekunde vergrößert sich die aufgewühlte Stelle im Wasserspiegel, bis schließlich ein immer größer werdender Strudel entsteht.
»Was ist das?«
Anstelle einer Antwort erhalte ich ein aufforderndes Wiehern. Wie gelähmt halte ich inne. Der dünne Stoff meines Brautkleids bauscht sich in den pulsierenden Wogen des Sees. Ich kann den Blick nicht von dem Strudel in der Mitte abwenden, wo nun ein helles Leuchten aus der Tiefe steigt. Eine unermessliche Verlockung geht davon aus, schlimmer als von dem Kelpie – tausendfach! Ich will dort hinausschwimmen und in dem Leuchten aufgehen, mich ihm hingeben und für immer in ihm auflösen.
Mit einem Mal fällt es mir wie Schuppen von den Augen: die Herrin des Sees! Sie hat den treulosen Bräutigam verwandelt. Sie hat seine Braut getötet! Wer über den See schwimmt, fällt nicht dem Kelpie zum Opfer, sondern ihr! Mit diesem letzten klaren Gedanken schwinge ich mich auf den Rücken des Pferdes und kralle mich in seiner Mähne fest.
Ein Zittern geht durch den Körper des Hengstes, dann erhebt er sich, bis er mit allen vier Hufen auf der Wasseroberfläche zum Stehen kommt. Krampfhaft umschließen meine Beine seinen Körper. Und doch kann ich den Blick nicht von dem Strudel reißen. Denn das, was nun daraus emportaucht, ist ein Wesen, strahlender als die Frühlingssonne und anmutiger als der Wimpernschlag einer frisch vermählten Braut. Goldenes Haar umweht ihr feines, gleichmäßig geschnittenes Gesicht. Ihr durchsichtiges Gewand besteht aus grüner Seide, besetzt mit Tausenden Muscheln und Perlen. Als Krone trägt sie eine roséfarbene Wasserrose. Durch ein sachtes Winken gibt die Herrin des Sees mir zu verstehen, dass ich zu ihr kommen soll.
Ich will ihr gehorchen! Möge sie mich unterwerfen und in die ewige Dunkelheit führen!
Doch genau in dem Moment, als ich entscheide, vom Rücken des Pferdes zu springen und dem Befehl meiner Gebieterin zu folgen, schnellt der Kelpie davon. Seine Hufe berühren kaum mehr die Wasseroberfläche. Nur die auffliegenden Gischtflocken und der enorme Gegenwind geben mir einen Hinweis darauf, wie schnell er mich davonträgt.
»Nein, lass mich zu ihr!«, schreie ich und will abspringen. Doch etwas hält mich fest! Es ist die Mähne des Kelpies, die sich wie schwarze Fesseln um meine Taille schlingt. Mit aller Kraft versuche ich, sie loszuwerden, doch es gelingt mir nicht.
Komm!, höre ich die Stimme der Herrin in meinem Kopf. Komm zu mir, mein Kind!
Sie winkt mir mit goldschimmernden Händen. Mein Herz zerspringt fast vor Kummer und Schmerz, weil ich nicht bei ihr sein kann! Doch die Bestie, auf deren Rücken ich sitze, kennt keine Gnade. Unbarmherzig trägt sie mich davon und tritt meine Sehnsucht mit stampfenden Hufen. Hätte ich nur meinen Brautschleier, um sie zu unterwerfen, doch so kann ich nichts tun, außer meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Ich sehe den Berg am anderen Ufer nicht mehr, die aufgewühlten Wassermassen, über die wir schneller als der Wind hinwegfliegen. Selbst das goldene Leuchten hinter uns verblasst und mit dem Strudel verschwindet schließlich auch mein unbändiges Verlangen, der Herrin des Sees untertan zu sein. Ungläubig reibe ich mir die Augen und blicke zurück, während das Pferd unter mir von schnellem Galopp in einen langsamen Trab fällt. Nichts deutet mehr darauf hin, dass noch vor wenigen Augenblicken die begehrenswerteste aller Verführerinnen dort auf der Lauer lag, um ihre Beute anzulocken. Hätte der Kelpie mich nicht abgehalten, so wäre ich ihr direkt in die goldenen Fangarme geschwommen. Langsam lösen sich die Schlingen seiner Mähne um meinen Bauch, während er die letzten Meter bis zum Ufer zurücklegt. Mit einem Satz springt er an Land und ich lasse mich von seinem Rücken gleiten.
Der Hengst senkt den Kopf, beide Ohren aufmerksam auf mich gerichtet. Ich lege eine Hand auf seine Nüstern. Sie sind kalt wie der See und feurig wie der Mann, der er einmal gewesen ist. Wie gern würde ich ihm all die Fragen stellen, die er nun nicht mehr beantworten kann.
»Danke«, sage ich daher nur. »Ich werde den Menschen in meinem Dorf erzählen, dass du kein Ungeheuer bist. Sie sollen von deinem Schicksal erfahren, auf dass deine Braut und du niemals vergessen werdet.«
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