Sie war mit Josh befreundet, seit seine Familie in das Haus neben ihrem gezogen war, als sie sieben und er acht Jahre alt gewesen war. Sie musste nichts weiter sagen, bevor er wieder zu ihr marschierte und sie abermals an seine Brust zog. Er streichelte mit seiner Hand ihren Rücken hoch und runter, um sie zu trösten, während er sie weinen ließ. Er flüsterte, wie sie vermutete, tröstliche Worte in ihr Ohr, auch wenn sie sie über ihre lauten Schluchzer nicht so recht verstehen konnte.
Serena war beim Weinen kein schöner Anblick und war es noch nie in ihrem Leben gewesen. Deswegen hasste sie es auch vor Leuten zu weinen, aber Josh kannte sie mittlerweile so lange, dass es keine Rolle mehr zu spielen schien. Außerdem war es ja nicht so, als hätte sie aufhören können, hätte sie es versucht.
Sie verharrten eine Weile in dieser Position, in der Josh ihren Rücken streichelte, bis ihre Tränen versiegten. Er ließ sie erst los, als sie wieder ruhig war. Daraufhin wandte er sich ab, um den Wasserkocher anzuschalten, bevor er vor sich hin brummelte, „Nein, etwas Stärkeres“, und den Wasserkocher wieder ausschaltete. Er griff in den Kühlschrank und zog eine Flasche Wein heraus.
Die meisten Leute betrachten Wein vermutlich nicht als „etwas Stärkeres“ , dachte sie bei sich. Aber sie war keine große Trinkerin, weshalb Wein mehr als stark genug für sie war. Hätte es sich um Katie, ihre Schwester, oder Mary, ihre beste Freundin, gehandelt, wäre eine Flasche Wodka angebrachter gewesen. Vielleicht sogar mehr als eine.
Josh öffnete die Flasche und füllte zwei riesige Gläser, ehe er den kleinen Rest, der in der Flasche zurückblieb, zurück in den Kühlschrank stellte. Er schwieg und wartete darauf, dass sie redete, denn er wusste, dass ihre Gedanken völlig durcheinander sein mussten und sie Zeit brauchen würde, um alles zu verarbeiten, bevor sie ihm den Rest der Geschichte erzählen konnte. Also saßen sie nur da und nippten an ihrem Wein in der Sorte angenehmer Stille, die nur aus jahrelanger Freundschaft geboren wurde, bis Serena zu reden begann.
„Ich bin so eine Idiotin. Natürlich wäre ich nie genug für ihn gewesen. Warum zum Kuckuck habe ich mir weiß gemacht, dass so ein Kerl für immer mit einem Mädchen wie mir glücklich sein würde? Du hättest diese andere Frau sehen sollen, Josh. Mit so jemandem könnte ich niemals mithalten.“
Er schwieg weiterhin und wartete darauf, dass sie weitersprach. Seine einzige Reaktion bestand in einem leichten Anheben seiner Augenbrauen, als hätte sie etwas Überraschendes gesagt. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, was das gewesen sein könnte, weshalb sie einfach weiter Dampf abließ.
„Ich meine, wie lange habe ich gedacht, würde es dauern, bis ihm klar wird, wie stinklangweilig ich bin? Ich meine, ich kenne den Kerl seit drei Jahren. Ich bin tatsächlich überrascht, dass er so lange gebraucht hat. Ich meine, fuck. Wir sind seit zwei Jahren zusammen und wir haben es noch nicht mal getan. Nun, ich habe es noch nicht getan. Wie es scheint, hat er es schon getan.“
Bei diesen Worten öffnete sich Joshs Mund einen Spaltbreit und er sog leise Luft ein. Scheiße , dachte sie, jetzt bin ich auch noch hingegangen und habe dafür gesorgt, dass er sich unwohl fühlt. Sex war das Einzige, über das sie nicht sprachen. Wann immer dieses Thema aufkam, hielt er den Mund.
In all den Jahren ihrer Freundschaft hatte sie ihn einmal danach gefragt. Katie und Mary hatten sich an einem der seltenen Abende, an denen sie alle gemeinsam in einen Club gegangen waren, über ihre „Sexploits“, wie sie sie nannten, lustig gemacht und waren nach dem Gespräch auf die Tanzfläche verschwunden. Josh hatte bloß dagesessen und den Kopf geschüttelt. Serena hegte keinerlei Zweifel daran, dass er nicht im Zölibat lebte, denn sie hatte ihn im Verlauf der Jahre mit vielen Mädchen gesehen, wenn auch nie mit dem gleichen länger als ein paar Wochen. Dennoch hatte er vor ihr nie auch nur ein Wort über Sex verloren.
Seine Antwort an jenem Abend war schlicht gewesen. „Das ist nichts, das ich näher mit dir besprechen möchte“, hatte er gesagt und war dann zur Bar gegangen, womit er diese Fragen effektiv unterbunden hatte.
Schnell vorwärts zu weiß der Himmel wie vielen Jahren später und hier war sie und platzte einfach mit diesem Thema heraus. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie heute Abend wirklich exzellent darin, die Dinge zu vermasseln.
„Serena, Süße“, sagte Josh schließlich, „ich kenne dich länger, als ich mir eingestehen möchte, und glaub mir, wenn ich sage, dass an dir überhaupt nichts stinklangweilig ist. Wenn er seinen Schwanz nicht in der Hose lassen konnte, bis du bereit warst, dann zur Hölle mit ihm! Du kannst einen so viel besseren Kerl finden als diesen arroganten Lackaffen. Und nein, das sage ich nicht einfach nur so. Du solltest mit jemandem zusammen sein, der den Boden anbetet, auf dem du läufst. Nicht jemandem, der dir nur Fitzelchen seiner Zeit schenkt und dich bloß als Trophäenfrau für seine öden Arbeitsveranstaltungen will“, wütete er.
Er schien wirklich sauer zu sein. Nach dieser Erkenntnis ließ sie einen Teil ihrer eigenen Wut ziehen und erlaubte ihm, diese für sie zu kanalisieren. Er war wirklich ein toller Freund.
So saßen sie mehrere Stunden da, in denen sie sich unterhielten und an ihrem Wein nippten, wobei sie gelegentlich weinte. Irgendwann schrieb sie ihrer Mutter eine Nachricht, um ihr mitzuteilen, dass sie bei Josh war und dass sie sich am Morgen mit ihnen treffen würde. Im Anschluss fiel sie in Joshs Gästezimmer in den Schlaf, noch immer in dem winzigen Designerkleid, das ihre Mutter für die Spendengala auf ihr Bett gelegt hatte. Das schien Jahrzehnte her zu sein.
Sechs Tage. So lange hatte es gedauert, bis ihr hübsch geplantes Leben den Bach runtergegangen war. Oder vielleicht war „in Flammen aufgehen“ ein besserer Ausdruck. Nun, wie auch immer man es nennen wollte, genau das war jedenfalls geschehen.
Sie spulte die Ereignisse der vergangenen sechs Tage in ihrem schmerzenden Kopf nochmal ab. Das war ihr zweiter Weinkater innerhalb einer Woche. Für jemanden, der eigentlich nichts trank, schien das etwas zu ausufernd zu sein.
Nachdem sie bei Josh übernachtet hatte, war sie am Morgen nach Hause zurückgekehrt. Dort hatte sie ihre Eltern und Bryan vorgefunden, die durch das prächtige Wohnzimmer im gut ausgestatteten Haus ihrer Familie getigert waren. Anscheinend hatte er ihnen von ihrem Überraschungsbesuch in seinem Apartment am Vorabend erzählt sowie von ihrem darauffolgenden Verschwinden. Er hatte es selbstverständlich vermieden den Grund für ihren abrupten Abgang zu erwähnen und sie als eine Art hormonelle Irre dargestellt.
Serena hatte sie nur fassungslos angestarrt, als ihre Mutter und Bryan sich auf sie gestürzt, befragt und sich über ihr Verhalten aufgeregt hatten. Ihre Mutter hatte sie gescholten, weil sie so unhöflich gewesen war, unangekündigt bei Bryan vorbeizuschauen und dann zu fliehen. Bryan hatte irgendetwas darüber gebrüllt, wie sie es wagen konnte, die Nacht allein im Apartment eines anderen Mannes zu verbringen. Zudem hatte er eine schneidende Bemerkung dazu gemacht, dass sie tatsächlich die Unverfrorenheit besaß, am folgenden Morgen ohne jegliche Scham einfach in dem gleichen Outfit, das sie am Vorabend getragen hatte, „angetanzt zu kommen“.
Sie hatte die beiden nur blöde angestarrt und dann das Einzige getan, das ihr in diesem Moment in den Sinn gekommen war. Sie hatte Bryans Ring von ihrem Finger gezogen und ihn ihm an den Kopf geworfen. Ihre Treffsicherheit hatte jedoch zu wünschen übriggelassen. Der Ring war an Bryans Kopf vorbeigeflogen und durch die Luft gesegelt, nur um dann im Kaffee ihres Vaters zu landen. Dieser hatte schweigend in dem Ohrensessel hinter Bryan gesessen und die Szene mit unbeteiligtem Blick beobachtet.
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