Der Kommissar, der hinter der Tür stand, sah durch das Guckloch eine schlanke, großgewachsene Frau, die stirnrunzelnd die glatte Tür aus dunklem, glänzend poliertem Holz betrachtete. Offensichtlich fragte sie sich, warum die Tür nicht geschlossen war.
Der Kommissar zog die Tür ganz auf und trat dahinter hervor. Er blickte in ein gebräuntes, etwas unregelmäßiges Gesicht, dessen braune Augen ihn verblüfft musterten.
„Was ist denn hier los?“ erkundigte sich die Dame bestürzt. „Wer sind Sie? Was tun Sie in meiner Wohnung?“
Der Kommissar beschränkte sich zunächst darauf, in seiner Musterung fortzufahren, statt zu antworten.
Die große dunkelhaarige Frau – ihr unbedecktes Haar, das an reife Kastanien erinnerte, glänzte im Licht – trug ein einfaches graues Kostüm, schwarze hochhackige Pumps, weiße Waschlederhandschuhe und eine schwarze Handtasche. Das offene Jackett ließ eine weiße Spitzenbluse sehen. Nachdem er das Alter der Dame auf etwa fünfunddreißig geschätzt hatte, sagte er sich, daß sie ohne die ein wenig groß geratene Nase beinahe für hübsch gehalten werden könnte. Sie war allerdings ein wenig starkknochig, ja kräftig, und wer nicht für junonische Figuren schwärmte, würde an ihrer Figur das eine oder andere auszusetzen haben.
„Sie sind die Nichte von Frau Junkers?“
„Ja“, erwiderte die Dame ein wenig atemlos. Sie zog die Brauen zusammen. „Ist ... ist etwas mit meiner Tante?“ Ihr Ärger, ihre Überraschung über das unerwartete Auftauchen des Fremden verwandelten sich schnell in Bestürzung, ja Besorgnis. Ein betroffener, ratloser Ausdruck erschien auf ihrem gebräunten Gesicht. „Mein Gott, sie ist doch nicht etwa ...“
„Was?“ fragte er ruhig.
„Krank oder ...“
„Warum sprechen Sie denn nicht weiter?“
Die Art, wie er sie ansah, wie er sie zum Sprechen zu bringen versuchte, schien sie aufs neue zu befremden. „Wollen Sie mir nicht endlich sagen, wer Sie sind? Warum ist Dr. Geraldy nicht geholt worden, wenn Tante nicht wohl ist?“
„Ist Ihre Frau Tante öfters krank?“
„Nein, eigentlich nie, wenn sie natürlich auch dann und wann den Arzt aufsucht.“
„Was befürchteten Sie eigentlich, als Sie mich sahen?“
„Ich verstehe nicht!“ Die junge Frau runzelte von neuem unwillig die dichten dunklen Brauen. „Ich weiß überhaupt nicht, was Sie meinen.“ Jetzt erst schien ihr bewußt zu werden, daß sie noch immer vor der Tür stand. „Wollen Sie mich nicht endlich vorbeilassen?“ fragte sie ärgerlich.
„Sofort.“ Wieder glitt der graue prüfende Blick über sie hin, und von neuem empfand sie sichtliches Unbehagen bei dieser unverständlichen Musterung.
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir endlich sagen wollten, was los ist!“ stieß sie hervor. Plötzlich hörte sie Geräusche in der Wohnung. Sie hob den Kopf. „Mein Gott ...“ Etwas fiel ihr ein. „Auf der Straße stand ja ein Krankenwagen. Es ist doch nicht wirklich was passiert?“
Sie wartete diesmal keine Antwort ab, sondern stieß den Beamten einfach zur Seite und drängte sich an ihm vorbei in die erleuchtete Diele. Er folgte ihr langsamer. Sie sah sich suchend um, bemerkte eine halb offene Tür und dahinter mehrere unbekannte Männer, die hin und her gingen und Dinge taten, deren Sinn ihr unbegreiflich war. Einer von ihnen öffnete gerade eine Schublade des Sekretärs.
„Hören Sie!“ begann sie entrüstet. Sie wollte ins Zimmer stürzen, aber der Kommissar hielt sie zurück. Sie fuhr ihn zornig an: „Ich will jetzt wissen, was Sie hier tun. Was machen diese Leute in Tantes Zimmer?“
„Ihrer Frau Tante ist tatsächlich etwas zugestoßen“, sagte der Kommissar ruhig.
„Wo ist sie?“ fragte die Nichte sofort.
„Sie ist verunglückt.“
„Schon wieder?“ rief sie bestürzt.
„Was wollen Sie damit sagen?“
Die junge Frau runzelte die Brauen. Ungeduldig erwiderte sie: „Nun ja, Tante ist in letzter Zeit etwas unbeholfen geworden. Sie ist nicht mehr so flink wie früher und nicht mehr so geschickt. Vor einem Vierteljahr ist sie gefallen und hat sich den Arm so verletzt, daß sie ihn noch heute nicht richtig gebrauchen kann. Aber so sagen Sie mir doch um Himmels willen ...“ Wieder machte sie eine Bewegung, um das Zimmer, vor dem sie standen, zu betreten, und wieder hielt der Kommissar sie zurück.
„Hier bitte!“ Ohne ihren Arm freizugeben, schob er sie in das große Wohnzimmer. Dort brannten alle Lampen, auch die Wandleuchter. In der Nähe sahen die Putten über dem Kamin, die Pamela von drüben bewundert hatte, schon ein bißchen mitgenommen aus, auch das Mobiliar machte einen leicht abgenutzten Eindruck, die Seide der Polsterbezüge war angeschmutzt und teils zerschlissen, die Teppiche auf dem Parkettboden abgetreten.
Auf dem kleinen Tisch am Kamin stand das unbenutzte Geschirr für ein kaltes Abendbrot. Butter und Aufschnitt fehlten noch, auch das Getränk, für das zwei Gläser bereitstanden. Es war für zwei Personen gedeckt, neben einem der Teller standen zwei Fläschchen mit Tabletten und eine Dose mit einem Darmregulativ. Die Gardinen waren zurückgezogen, die Glastür zur Loggia stand offen, und im Lichtschein, der in die Nacht hinausfiel, konnte man die Kästen mit den roten Geranien sehen, die die Brüstung schmückten, außerdem einen zusammengeklappten Liegestuhl, einen rot-weiß gepunkteten Sonnenschirm, der an der Wand lehnte. Vom Garten war nichts zu erkennen, aber jenseits der Mauer waren helle Fenster zu sehen.
„Hat Tante Sie angerufen?“ fragte die junge Frau, besann sich dann jedoch und blickte unruhig zur Tür. „Diese Männer ..., also ich verstehe einfach nicht ...“
„Kriminalpolizei“, erwiderte der Kommissar lakonisch.
„Polizei?“ fragte sie mit aufgerissenen Augen. Sie wurde blaß. Sie schien außerstande zu sein, etwas zu sagen. Er konnte sehen, wie sie schluckte, wie sie sich bemühte, damit fertig zu werden. Sekundenlang irrte ihr Blick wie auf der Suche nach einem Ausweg durchs Zimmer, dann endlich schien sie sich wieder zu fassen. Mit ganz veränderter Stimme brachte sie mühsam hervor: „Seit wann benachrichtigt man bei einem ... einem Unfall die Polizei? Sie sagten doch, daß es ein Unfall gewesen sei?“
„Ich sagte, Ihrer Frau Tante sei etwas zugestoßen.“
„Ja, natürlich“, bestätigte sie hastig. „Ich ... ich habe es so aufgefaßt. Ich ...“ Sie sprach nicht weiter. Sie zeigte die typische Reaktion der meisten Menschen beim Auftauchen der Polizei. Er hatte den Eindruck, als erschrecke sie noch heftiger als üblich, was bei ihr verwunderte, denn sie machte keinen zimperlichen Eindruck.
„In diesem Falle mußte die Polizei benachrichtigt werden.“ Der Kommissar wies sich aus.
Sie starrte den Ausweis und den Mann an, aber es war schwer zu sagen, ob sie überhaupt etwas sah.
„Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen“, sagte der Kommissar. „Ich kann sie Ihnen leider nicht ersparen.“
Sie legte Handtasche und Handschuhe langsam auf die Kommode. Sie stand halb von ihm abgewandt und drehte sich auch nicht um, als er weitersprach, so, als weiche sie seinem Blick aus.
„Darf ich um Ihren Namen bitten?“
„Wilma Junkers“, erwiderte sie hastig. „Sie haben vorhin meine Frage nicht richtig beantwortet, Herr Kommissar. Warum hat man Sie gerufen? Wenn jemand sich in der Wohnung verletzt, ruft man doch höchstens einen Arzt an, nicht?“ In ihrer Stimme lag eine bange Frage. „Oder war es ... war es vielleicht ein Verkehrsunfall?“
„Nein.“
„Ja, dann ... Was ist los?“ Ihre Stimme klang heiser, beinahe gequält, als ertrüge sie die Ungewißheit nicht länger.
Er hatte in diesem Augenblick das deutliche Gefühl, daß sie etwas verbarg.
Jemand kam herein, ein schlanker, braunhaariger junger Mann, der sich dem Kommissar näherte und mit leiser Stimme eine Bemerkung machte, ohne die anwesende Dame zu beachten. Der Kommissar nickte schweigend, dann richtete er den Blick seiner grauen Augen wieder auf Wilma Junkers, die nervös eine Zigarettendose geöffnet hatte und sich eine Zigarette anzündete.
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