„Wir waren nicht blutsmäßig miteinander verwandt, Tante und ich. Mein Vater war der Bruder ihres Mannes. Unser Zweig der Familie war allerdings nicht einmal wohlhabend zu nennen. Ich wurde sofort nach der Schulentlassung berufstätig und arbeitete zuletzt als Sekretärin und Dolmetscherin in einem größeren pharmazeutischen Betrieb. Als mein Onkel krank wurde, holten sie mich. Onkel starb bald darauf. Meine Tante fand das Haus, in dem sie während ihrer Ehe gelebt hatte, zu groß und zog mit mir hierher, als die Wohnung frei wurde. Tante selbst war eigentlich nie krank, sondern eher robust, aber ich glaube, die Hilflosigkeit meines Onkels während der letzten Wochen hatte ihr zu denken gegeben. Sie hatte wohl Angst, einmal auf fremde Menschen angewiesen zu sein. Da sie nie Kinder hatte, überredete sie mich, bei ihr zu bleiben, als eine Art Gesellschafterin und natürlich als Pflegerin für den Fall, daß sie krank werden sollte. Darüber hinaus war sie auf den Gedanken gekommen, daß ich ihr im Zeitalter der Personalknappheit von großem Nutzen sein könnte. Natürlich brauchte ich nie grobe Arbeit zu verrichten, aber ich kochte doch oft, und selbstverständlich hatte ich sie zu bedienen, wenn Frau Karsten nicht da war. Ich war so eine Art Mädchen für alles. Dafür zahlte sie mir allerdings beileibe kein Gehalt. Ich erhielt lediglich Wohnung, Essen, Kleider und ein Taschengeld, um das mich keine Primanerin beneiden würde.“
Wie alt mochte sie sein? Anfangs hatte er sie auf fünfunddreißig geschätzt, aber im Licht der Lampe, unter der sie saß, bemerkte er, daß sie auch gut und gern vierzig sein konnte. Nicht mehr jung also, keine Schönheit, unverheiratet. Welches Leben mochte sie hier gehabt haben mit dieser geizigen, vermutlich auch tyrannischen alten Frau? Sie sprach lebhaft, beinahe amüsiert, aber mit einem Unterton tiefer Bitterkeit.
„Wir gingen kaum aus. Tante besuchte zwar gern Konzerte, aber sie beschränkte diese Liebhaberei auf den Sommer, wenn es im ‚Palmengarten‘ für Dauerkarteninhaber kostenlose Konzerte gibt. Im Winter hatte ich kaum Gelegenheit, aus der Wohnung zu kommen. Lediglich meine Tätigkeit beim Roten Kreuz ...“
Mehr oder weniger war sie also strenger gebunden gewesen als eine Hausangestellte. Vermutlich hatte ihre Tante verlangt, daß sie immer zur Stelle sei. Warum aber war sie hier geblieben? Warum hatte sie eine sicher gut bezahlte Stellung aufgegeben, um unter solchen Umständen Monate, Jahre bei der alten Frau zu verbringen? Vielleicht war die Tante sogar daran schuld, daß sie nicht geheiratet hatte?
„Sie versprach mir, daß ich sie beerben würde, wenn ich sie bis zuletzt betreute“, sagte Wilma Junkers lakonisch, ohne danach gefragt zu werden. Ihre Offenheit hatte jedoch erneut etwas Bitteres, als habe sie zu lange auf den Tag der Freiheit warten müssen. „Wäre ich vorher von ihr weggegangen, hätte sie alles der Stadt oder einer karitativen Einrichtung hinterlassen, wie sie mir einmal, als wir Streit hatten und ich gehen wollte, androhte.“
„Wie lange haben Sie bei Ihrer Tante gelebt?“
„Zehn Jahre. Als ich herkam, war ich siebenundzwanzig. Ich hätte natürlich nie gedacht, daß ich so lange bleiben würde.“
Zehn Jahre! Zehn ihrer besten Jahre! Ihre Bitterkeit war nicht verwunderlich.
„Alles wäre wohl nicht so schlimm gewesen, hätte sie mir mehr Freiheit gelassen. Wir hätten ja auch verreisen können, nicht wahr? Sie hatte immerhin Geld genug, um sich ein angenehmes Leben zu machen, aber sie vergrub sich in dieser Wohnung, sie sparte an Kleidern, am Personal, sogar am Essen. So behauptete sie beispielsweise, Butter sei nicht gesund. Wir aßen nur Margarine. Mit der Zeit wurde sie immer mehr von der Zwangsvorstellung besessen, im Alter verhungern zu müssen. Man kann nicht darüber lachen, wissen Sie, nicht wenn man das miterlebt. Aus einem Stück vertrockneten Brotes, das wir im Schrank vergessen hatten, machte sie eine Tragödie. Dr. Geraldy sagte auch, ihr Geiz sei krankhaft.“
„Der behandelnde Arzt?“
„Ja, er ist der einzige Mensch, mit dem ich jemals darüber gesprochen habe, denn ...“ Sie zuckte mit der Achsel. „Ich hatte ja praktisch keinen Verkehr. Tante hätte es nicht gern gesehen, daß ich eine Bekannte eingeladen oder daß ich mich mit Freunden getroffen hätte. Es kostete erstens Geld, und zweitens behauptete sie, mich zu brauchen. Ich mußte sie auch jedes Jahr nach Nauheim begleiten. Sie machte dort Kur. Nicht einmal den Urlaub durfte ich allein verbringen. Ich hatte in diesen Jahren nie Ferien. “
„Hatte Ihre Tante feste Einnahmen?“
„Ja, die Mieteinnahmen. Sie lebte vor allem von ihren Zinsen, nehme ich an, und den Renditen.“
„Wer verwaltete ihr Geld?“
„Sie selbst, das heißt, sie ließ Papiere ankaufen, Pfandbriefe und dergleichen. Ihre Bank beriet sie. Zu diesen Beratungen durfte ich sie nie begleiten. Sie machte das alles selbst und schloß auch die Unterlagen vor mir weg.“
„Ihr Onkel?“
„War Makler. Er war auch nicht gerade verschwenderisch, aber doch nicht geizig. Ich glaube, er hatte zum Schluß auch kein leichtes Leben bei ihr. Schon damals fing sie an, jede Zigarre zu zählen, die er rauchte, und jedes Glas Portwein.“
Wilma Junkers hob die Schultern, um ihre Machtlosigkeit zu zeigen. „Hat Ihre Tante verlangt, daß Sie sich beruflich betätigen?“
„Meine Arbeit beim Roten Kreuz ist ehrenamtlich.“
„Damit war sie einverstanden?“
„O ja, das hielt sie sogar für notwendig. Sie war sehr mildtätig, solange es sie nichts kostete. Ich ging nach dem Essen ins Büro und blieb dort den Nachmittag über bis zum Abend. Ehrlich gesagt war ich froh darüber. Ich konnte doch wenigstens dreimal einen halben Tag ohne sie verbringen. Ich kam unter Menschen, sah ein bißchen Leben auf den Straßen, konnte mir die Schaufenster ansehen.“
Sie machte nicht den Eindruck, als sei ihr die Tatsache, daß sie nun endlich frei und vermutlich sogar reich war, bereits ganz bewußt geworden. Bisher war die einzige Reaktion auf den Tod ihrer Tante Bitterkeit über zehn verlorene Jahre gewesen. Sie schien zu begreifen, daß kein Geld der Welt ihr diese Jahre zurückgeben konnte. Es würde eine Weile dauern, bis sie richtig begriff, daß die Last von ihr genommen war.
„Arbeiten Sie auf diesem Büro mit Bekannten zusammen?“
„Ich kenne die Damen natürlich, aber es sind keine Bekannten von mir.“ Ein flüchtiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Sie werden sich dort nach mir erkundigen wollen.“
„Das gehört zu unseren Nachprüfungen.“
„Ich verstehe. Ich fuhr heute um halb zwei in die Stadt. Tante ruhte noch. Sie wollte in diesen Tagen ihre Bank aufsuchen, um etwas zu erledigen. Ich weiß nicht was. Vielleicht war sie heute da. Um sechs rief ich sie an und sagte ihr, daß ich vermutlich später als sonst heimkommen würde.“
„Sie war zu Hause?“
„Ja, natürlich. Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung sei.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
Wilma Junkers zuckte mit der Achsel, als wisse sie das eigentlich selbst nicht. Sie dachte nach. „Es hätte ja sein können, daß sie sich nicht wohl fühlte, nicht wahr?“
„Sie denken an eine Erklärung für den Sturz?“
„Ja, ich kann mir noch immer nicht richtig vorstellen, wie es passieren konnte.“
„Sie erwähnten vorhin Legate. Dachten Sie an eine oder mehrere bestimmte Personen?“
„Oh, ich weiß nicht ... Frau Karsten natürlich, die Aufwartefrau. Sie arbeitet schon lange für Tante Leonie, früher war sie Köchin bei ihr. Auch Karsten war bei Onkel tätig. Später, als wir das Haus aufgaben und hierher zogen, nahm sich Frau Karsten in der Nähe ein Zimmer. Sie ist Witwe. Sie bekommt eine Rente und arbeitet nur für uns. Tante versprach ihr oft, sie einmal in ihrem Testament zu bedenken. Auch Onkel hatte Frau Karsten etwas ausgesetzt. Ja und dann ... vielleicht wollte sie diesem Musiker etwas hinterlassen. Tante hatte eine unbegreifliche Vorliebe für ihn.“
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