So schnell spielten sich diese Ereignisse ab, dass Bomba kaum einen Blick auf den sterbenden Jaguar geworfen hatte, als er auch schon den Angriff der beiden anderen Bestien kommen sah. Sie hatten fast im gleichen Augenblick zum tödlichen Sprung angesetzt. Neram warf seinen Speer, um den Ansturm des einen Jaguars abzuwehren. Doch die Spitze ritzte nur die Haut des Tieres, und im nächsten Moment wurde der Indianer zu Boden geschleudert. Mit einem gereizten Knurren vergrub das Raubtier seine Zähne in den Arm des Mannes.
Doch schon war Gibo zur Stelle. Er schwang seine schwere Kriegskeule und ließ sie auf den Kopf der Bestie niedersausen. Betäubt lockerte der Jaguar den Zugriff seiner Zähne. Dann sank er zur Seite, als ein Hagel von Schlägen seinen Kopf zerschmetterte.
Inzwischen hatte sich der dritte Jaguar auf die wehrlose alte Frau gestürzt. Die Bestie kauerte jetzt auf dem schlaff daliegenden Körper, aber ehe die Zähne nach Sobrininis Kehle schnappen konnten, hatte Bomba schon einen Pfeil ergriffen und auf die Sehne seines Bogens gelegt. Er sprang vor und stieß dabei einen hellen Schrei aus. Der schrille Laut hatte die beabsichtigte Wirkung: der Jaguar ließ von seinem Opfer ab und blickte auf. Drohend und fauchend öffnete er den Rachen und ließ ein dumpfes Grollen ertönen. Ruhig zog Bomba die Bogensehne bis zum Kopf zurück. Dann ließ er los — und im nächsten Augenblick bohrte sich der Pfeil in das Auge der Bestie. Mit einem schrecklichen Todesbrüllen überschlug sich der Jaguar bei einem vergeblichen Sprung nach vorn. Dann fiel der mächtige Körper ins Gras und blieb reglos liegen.
Bomba warf den Bogen weg und eilte zu Sobrinini. Bewusstlos und in totengleicher Starre lag sie da. Doch ihr Herz schlug noch, wie der Junge feststellte. Er rannte sofort zum nahen Bachufer hinunter und holte Wasser. Er überspülte ihr Gesicht, rieb ihre Handgelenke ab und flößte ihr etwas Wasser ein. Immer noch regte sie sich nicht. Nirgendwo am Körper war eine Verwundung oder auch nur eine Schramme festzustellen. Aber der schwere Anprall und die Erschütterung durch den Angriff des Raubtieres hatten ihre ohnehin schon schwache Lebenskraft so zerrüttet, dass sie in einer todesähnlichen Ohnmacht dalag.
Bomba bereitete aus Farnen und Gräsern ein Bett und legte den schlaffen Körper der Alten sanft nieder. Dann ging er dorthin, wo Gibo sich um seinen verwundeten Gefährten bemühte. Nerams Arm war übel zugerichtet. Doch Bomba war in der rauen Chirurgie der Dschungelindianer gut bewandert. Er untersuchte zuerst eingehend die Wunde, um festzustellen, ob sie nicht zu sehr verschmutzt war, und als diese Untersuchung zu seiner Zufriedenheit ausfiel, kochte er aus Kräutern, die ihm Gibo besorgen musste, einen Absud und wusch damit die Wunde aus. Dann strich er die verletzten Stellen mit einer Salbe ein, die er immer bei sich trug und deren Heilkraft sich schon oft genug bewährt hatte.
Mit dem stoischen Heroismus der Indianer ließ Neram die Behandlung über sich ergehen, ohne einen Schmerzensruf auszustoßen. Dankbar blickte er zu Bomba auf, und als der Junge ihm ermutigend zunickte, seufzte er zufrieden, legte den Kopf zur Seite und sank sofort erschöpft in Schlaf.
Doch der Dschungelboy fühlte durchaus nicht jenen Optimismus, den er dem Verwundeten gegenüber gezeigt hatte. Seine kleine Streitmacht war durch Nerams Ausfall um ein Drittel verkleinert worden, und das konnte sich in Zukunft als sehr gefährlich erweisen. Neram war ein treuer und erprobter Begleiter des Jungen auf vielen gefahrvollen Wanderungen durch den Dschungel gewesen. Vor langer Zeit hatte er den Indianer aus der Gewalt eines Urwaldtyrannen befreit, bei dem Neram als Sklave ein erbarmungswürdiges Dasein geführt hatte. Seither war Neram bereit gewesen, seinem Herrn durch dick und dünn zu folgen.
Noch schlimmer war es jedoch, dass Sobrinini durch den Angriff des Jaguars einen solchen Schock empfangen hatte. Damit war der Erfolg der Expedition überhaupt in Frage gestellt. In einer lichten Stunde hatte Sobrinini dem Jungen von dem Vorhandensein einer Stahlkassette berichtet, die am Ufer des ‚Unterirdischen Flusses’ vergraben liegen sollte. Angeblich enthielt die Kassette Dokumente und Gegenstände, die für Bomba bei der Forschung nach seiner Herkunft von unschätzbarem Wert sein konnten. Sobrinini hatte schließlich selbst vorgeschlagen, Bomba zum Unterirdischen Fluss zu begleiten. Jetzt waren sie bereits vier Tage vom Dorf der freundlichen Araos unterwegs. Dort hatte Bomba seinen alten Freund und Beschützer Casson in der Obhut der alten Indianerin Pipina zurückgelassen. Für Cody Casson war also gesorgt; doch was würde jetzt aus der Suche nach der Kassette werden, wenn Sobrinini ohnmächtig und hilflos dalag?
Während der Junge noch grübelnd am Lager Sobrininis stand, fuhr die Alte plötzlich empor.
„Der Jaguar!“, kreischte sie und streckte die dürren Arme vor, als wollte sie die Bestie abwehren.
„Der Jaguar ist tot“, sagte Bomba beruhigend. „Er wird dich nicht mehr bedrohen.“
„Und die anderen?“, rief sie furchtsam und schaute sich scheu um. „Es waren drei!“
„Alle sind sie tot“, murmelte Bomba und wies auf die Tierkadaver auf der Lichtung.
Sobrinini ließ sich zurücksinken. Ein schwaches, etwas schmerzliches Lächeln der Befriedigung glitt über ihr Gesicht.
„Sagte ich es nicht, Bomba?“, flüsterte sie fast unhörbar. „Sagte ich nicht, dass das Ende unserer Reise kommen würde — auf vier — acht und zwölf Füßen?“
3 Ein aufregendes Schauspiel
Bomba warf der Alten einen bestürzten Blick zu. Dann senkte er die Augen, denn er musste an ihre merkwürdige Prophezeiung denken.
Zwölf Füße! Drei Jaguare!
Hatte Sobrinini wirklich die Gabe des zweiten Gesichtes?
Die Alte schien seine Gedanken zu ahnen, und sie lächelte.
„Du wolltest mir nicht glauben, Bomba. Aber ich sage dir: das Ende der Reise ist da.“
„Du irrst dich“, erwiderte Bomba mit einer Festigkeit, die durchaus nicht seinen wahren Empfindungen entsprach. „Es wird noch einige Tage dauern, ehe wir das Ziel der Reise erreicht haben.“
„Das Ende der Reise ist gekommen“, wiederholte Sobrinini beharrlich. „Für mich ist es gekommen. Ich fühle es — hier.“ Sie legte die magere Hand ans Herz.
„Du bist jetzt nur müde und erschöpft“, versuchte Bomba sie zu trösten. „Du wirst jetzt schlafen, und wenn du erwachst, wirst du wieder gesund sein.“
„Ja, ich werde schlafen“, sagte die Alte düster. „Aber es wird der Schlaf ohne Erwachen sein.“
Wieder glitt ein Schauer über den Rücken des Jungen. Es wurde ihm klar, dass die Voraussage der Alten in diesem Fall wahrscheinlich eintreffen würde. Zu oft hatte er den Tod im Dschungel in den verschiedenartigsten Gestalten gesehen, und die Anzeichen dafür waren in Sobrininis Gesicht deutlich zu erkennen. Ihre Haut war aschfahl, und in ihren Augen war ein unirdisches Leuchten. Das Licht des Wahnsinns schien erloschen zu sein, als wollte sich in der Todesstunde noch einmal das wahre geistige Wesen dieser Frau offenbaren. Sobrinini war nicht vollkommen vernünftig geworden, aber sie war in diesem Augenblick; der Geistesklarheit näher als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, seitdem Bomba sie kannte.
„Was denkst du, Bomba?“, murmelte sie. Ihr Blick war ruhig und ihre Stimme klang vernünftig. „Sprich. Die Zeit ist nur noch kurz.“
„Erzähle mir von meinen Eltern“, bat Bomba, und seine Stimme war heiser vor Erregung. „Wo sind sie? Leben sie noch? Kann ich sie finden?“
„Ja — ich habe deine Eltern gekannt“, begann die Alte mit verlöschender Stimme. „Bartow und Laura habe ich gekannt. Ich habe gehört, wie dir deine Mutter vorsang, als sie sich über deine Wiege beugte. Sie nannte dich Bonny. Du warst ihr einziges Kind — ihr Schatz und ihr Abgott. Und Bartow, ihr Mann, war ein großer Maler, und er war hübsch — so wie du hübsch bist. Seine Bilder wurden in ganz Europa und in Amerika gekauft. Er war ein berühmter Mann, aber auch deine Mutter war berühmt. Sie war eine gefeierte Sängerin — so wie ich einmal eine große Opernsängerin gewesen bin. Wir haben oft zusammen auf der gleichen Bühne gestanden, und der Beifall hat ihr und mir gegolten: der Applaus von Königen und Fürsten und hohen Herren!“
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