»Könntest du dich für ein paar Minuten um Gordon kümmern, während ich telefoniere? Wir haben zwar vor einer Stunde gegessen, aber ich glaube, ein bisschen kaltes Huhn zum Lunch wäre keine schlechte Idee.«
»Und vielleicht etwas Salat?«
»Ganz deiner Meinung.«
Ihr Umgangston ließ auf eine intakte Beziehung schließen. Er folgt Mrs. Tipton in den ersten Stock, wo sie ihm seinen Anorak abnimmt. Die Wohnung ist nicht besonders groß, aber für englische Verhältnisse ausgesprochen gemütlich eingerichtet. Die wenigen Bilder an den Wänden entsprachen seinem Geschmack, und die dicht besetzten Buchregale legten die Vermutung nahe, dass die Tiptons nicht sonderlich viel Zeit vor dem Fernseher verbrachten, der zudem verstaubt und schwer zugänglich in einer Ecke stand.
»Nehmen Sie Platz«, sagt sie, »oder schauen Sie sich gerne um, wenn Sie möchten. Viel mehr zu sehen gibt es allerdings nicht. Wir haben nur drei Zimmer plus Küche. Die übrigen Räume benutzen wir als Werkstatt und Lager.«
Er nickt und weiß nicht recht, was er sagen soll, plötzlich allein mit einer fremden, nach Parfüm duftenden Frau. Als er ans Fenster tritt, das zur Straße hinausgeht, erblickt er sich kurz in einem mit Ornamenten verzierten Spiegel. Er erkennt sein Gesicht, muss jedoch verzweifelt feststellen, wie ungepflegt er aussieht. Die dunklen Haare hängen ihm strähnig in die Stirn, und seit mehr als vierundzwanzig Stunden hat er sich nicht rasiert, was einem Mann mit kräftigem Bartwuchs deutlich anzusehen ist. Herrgott, er hatte ja nicht einmal sein Rasierzeug bei sich! Während er vor einem Barschrank steht und ihr den Rücken zukehrt, holt er rasch seinen Kamm aus der Hosentasche und zieht ihn ein paar Mal durch seine Haare. Hofft, dass er nicht nach Parkbank und Penner riecht.
»Möchten Sie vielleicht einen kleinen Drink? Einen Sherry? Whisky?«
Er denkt an die beiden Biere, die er bereits zu ziemlich früher Stunde getrunken hatte, doch aus purer Höflichkeit lehnt er nicht ab. »Einen kleinen Sherry, sehr gern.«
»Sie sind zu Weihnachten nach Hause gekommen?«
»Ja, es ... hat sich so ergeben.«
»Frank und ich haben einen erwachsenen Sohn – Martin. Ich hoffe, er bleibt in Edinburgh, mitsamt seiner Verlobten! Sie studiert Psychologie und meint, sie müsse uns analysieren. Ist das nicht schrecklich?«
»Nun ...«
»Haben Sie Familie hier?«
»Nein, meine Eltern sind schon vor Jahren gestorben.«
»Aber Sie sind verheiratet?«
Er weiß nicht, was er antworten soll.
»Außerhalb von England«, sagt sie lächelnd, »nachdem Sie den Ring an der rechten Hand tragen.«
Während sie ihm das Glas reicht, versteht er, was sie meint. Der Anblick des Rings erschreckt ihn und lässt ihn vermuten, dass es womöglich noch viele Dinge gab, die ihm ein Rätsel waren. Zunächst einmal galt es, sich aus der heiklen Situation zu befreien, und er fühlt sich dazu in der Lage: »Wir haben uns getrennt. Deswegen bin ich hierher gekommen. Ich wollte alle Brücken hinter mir abbrechen.«
»Dann sollten Sie auch den Ring ablegen, finde ich.«
Vielleicht war dies ein gut gemeinter Rat von Mrs. Tipton, doch ihre Worte ärgerten ihn ein wenig. Andererseits gefiel ihm ihre Offenheit, die ein gewisses Vertrauen zwischen ihnen entstehen ließ. »Ich habe es versucht, aber er ist wie festgewachsen.«
»Zum Wohl«, sagt sie lächelnd.
Dann teilt sie ihm mit, dass die Galerie geschlossen bliebe, während sie zu Mittag essen würden. Sie geht in die Küche und beginnt klirrend mit Tellern und Besteck zu hantieren. Er stellt sein Glas auf die Fensterbank und versucht sich den Ring abzudrehen, doch der lässt sich nicht ohne weiteres entfernen. Vermutlich hatte er ihn schon seit Jahren am Finger. Er gibt auf, schaut auf die Straße und sagt sich, der Ring könne warten. Tiptons Frau würde es sicherlich kommentieren, wenn sie bemerkte, dass er ihre Empfehlung sogleich befolgt hatte. Er war also verheiratet und zum ersten Mal an diesem Tag spürt er ein leichtes Prickeln hinter den Schläfen. Wenn er den Schmerz vermeiden wollte, durfte er nicht an die Vergangenheit denken. Im Grunde hat er auch kein Interesse mehr daran, in der rätselhaften, nebulösen Vergangenheit herumzustochern, nicht in diesem düsteren Raum, dessen Möbel von Schonbezügen bedeckt waren.
Ich bin Gordon Bell, ein früherer Agent. Gordon Ernest Bell, um genau zu sein.
Etwas später kommt Frank nach oben. Seine Brille hängt wieder an einer Schnur vor seiner Brust und seine grauen Augen blitzen:
»Ich habe Brian nicht erreicht, aber da Donnerstag ist, gehe ich davon aus, dass er heute Abend im Walker vorbeischaut, seiner Stammkneipe.«
»Ist er ... einer von uns?«
»Nein, Brian hat keine Ahnung von meiner Vergangenheit. Er ist Hornist bei den Londoner Symphonikern, aber in seiner Freizeit macht er ein bisschen Jazz für Leute, die ihm zuhören wollen. Ich gehöre zu dieser exklusiven Schar, und es wird mir eine Ehre sein, dich zu empfehlen.«
»Das ist sehr nett von dir, Frank, aber wir wissen doch beide nicht, ob mein musikalisches Niveau ausreicht.«
»Diese Beurteilung überlasse ich natürlich Brian. Solltest du ihn in den Schatten stellen, wird er dir ein Engagement bei Ronnie Scotts vorschlagen. Im anderen Fall wird er dir eine zweitklassige Pianobar empfehlen, in der du mit einer Schale Pistazien als Honorar Vorlieb nehmen musst. In solchen Fragen ist er von Grund auf ehrlich.«
»Vielleicht sagt ihm mein Stil gar nicht zu.«
»Das sehen wir dann schon. Hauptsache, er kann dir ein Dach über dem Kopf besorgen. Er hat wirklich die verschiedensten Verbindungen. Wenn alle Stricke reißen, schläfst du einfach weiter in Martins Zimmer, bis er mit seiner aufdringlichen Verlobten aufkreuzt.«
Er sollte ihr Gast sein. Gordon Bell fehlen die Worte. Obwohl er nach der Nacht auf der Parkbank ziemlich ungepflegt wirkt, machte er auf wildfremde Menschen also einen so vertrauenswürdigen Eindruck, dass sie bereit waren, ihm zu helfen. Oder hatte seine heruntergekommene Erscheinung bloß ihr Mitleid geweckt? Oder – und diese Begründung scheint ihm am wahrscheinlichsten – fühlte sich der Galerist einfach verpflichtet, einem Mann zu helfen, dessen Schicksal er teilte.
»Ich möchte deiner Frau und dir keine Unannehmlichkeiten bereiten«, sagt er schließlich und meint es ehrlich.
»Davon kann gar keine Rede sein«, sagt Frank lächelnd und fügt bekräftigend hinzu: »Ich versuche nur, mich in deine Lage zu versetzen und dich für das abweisende Verhalten von Arthur und Bobby zu entschädigen. Wenn ich mir vorstelle, ohne einen Penny in mein Heimatland zurückzukehren und dann von einem Arbeitgeber abgewiesen zu werden, dem ich jahrlang mit großem persönlichem Risiko gedient habe, dann würde auch ich all meine Hoffnung darauf setzen, dass es zumindest einen Kollegen gäbe, der bereit wäre, mir zu helfen. Sie sollten sich schämen, die Drecksäcke in der Curzon Street!«
Während des Lunchs, das sehr viel reichhaltiger ausfällt, als es die Ankündigung von kaltem Huhn und Salat hatte erwarten lassen, ziehen die Gastgeber Gordon mühelos in ein Gespräch hinein. Sie unterhalten sich lebhaft und entspannt über alltägliche Dinge, sind sich einig, dass London nicht mehr das ist, was es einmal war, ohne sich jedoch vorstellen zu können, an einem anderen Ort zu leben. Zwischenzeitlich bringen sie es sogar fertig, ihn die Situation vergessen zu lassen, in der er sich befindet. Das Begräbnis auf dem Highgate-Friedhof erwähnen sie mit keiner Silbe. Erst als sich Frank eine Zigarre anzündet und er dankend ablehnt – er bevorzuge seine Zigaretten –, wechselt das Ehepaar ein paar Worte hinsichtlich des Geschäfts.
»Calthorpe war hier und hat sich das Bild von O’Malley angeschaut.«
»Angeschaut ... und ist wieder gegangen?«
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