Und doch, auch wenn mich über Jahre die Frage sorgte, wie meine Studierenden, ohne dem historischen Modell ländlicher Lebens- und Wirtschaftsweise persönlich je begegnet zu sein, neu eine nachhaltige Architektur und Lebensweise entwickeln können: Heute gärtnern viele von ihnen – selbst in beengten und urbanen Räumen –, sie bauen selbst an ihrem Zuhause und verweigern sich dem verordneten Leistungszwang. Das sinnliche, körperlich konkrete Tun und Erfahren erlebt Zuspruch. Landwirte und Handwerker erzählen mir von Studierenden und Akademikern, die sich um Praxisplätze bewerben. Selbst Hofübernahmen bleiben nicht mehr am Letzten hängen, zunehmend interessieren sich die am besten Ausgebildeten dafür. Und ebenso nimmt die Zahl der Bäuerinnen und Bauern zu, deren Eigenversorgung zum Auftakt ihrer wachsenden Produktpalette wird.
Wer sich selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt
Während der vielen Jahre meiner regelmäßigen Zugreisen zwischen Linz und Bregenz fiel manche Fahrt auf einen Samstagvormittag – die verlässlich ruhigste Reisezeit der Woche. Häufig teilte ich einen Großraumwaggon mit nur drei oder vier Mitreisenden. Dabei beobachtete ich wiederholt, wie neu Zugestiegene hundert freie, bessere Plätze, fußfrei und mit Tisch, ignorierten, um programmiert und fremdgesteuert von ihrer Platzreservierung den schlechtesten Platz zu wählen – hinein in eine enge Zeile, vor die Fensterkonsole und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung!
Wenn der Kontakt zur Situation und zu sich selbst fehlt, finden weder die Umstände eines Orts noch die eigenen Bedürfnisse zu ihrem Recht, weder die inneren noch die äußeren Bedingungen. Wer sich aber selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt, ist offen für Verführung und fremde Führung. Das wirkt sich fatal auf Individuum und Gemeinschaft aus – und auf die Demokratie, denn was diese legitimiert und mit Leben füllt, sind Weltzugewandtheit, Anteilnahme und die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger.
Es sind diese Ferne zu den Dingen und unsere Fühllosigkeit, die uns stumm bleiben lassen vor dem Rückzug der Demokratie, der Verrohung der Sprache und dem Monogrün unserer sogenannten Wiesen, die uns untätig sein lassen angesichts der unfassbaren Banalisierung der städtischen Peripherien, des Insekten- und Vogelschwunds und des maßlosen Leids in Flüchtlingslagern.
Es gibt eine Daseinsform, die keine Rückkoppelung mit der Welt kennt, weder mit der persönlichen Geschichte noch mit der kollektiven. Psychologisch würde eine Existenz ohne wechselhafte Bezüge zur sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Wirklichkeit wohl als Autismus diagnostiziert, oder als Narzissmus – deren Beschaffenheit uns seit ihrer amerikanischen Personifizierung so drastisch vor Augen steht. In dieser Weise programmiert wird die äußere Welt zum schändlichen Abbild der inneren. Schon bei Hugo von Hofmannsthal ist nachzulesen: „Es ist den Menschen im Allgemeinen nicht gegeben, zu sehen, was ist.“ 7 7 Hugo von Hofmannsthal: Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie. In: Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 173 – 186, hier S. 176.
Kaum treffender sind die Verhältnisse zu charakterisieren als mit dem vom 27. Februar 2014 aus Moskau überlieferten Geschehen: Nachdem sich nicht mehr geheim halten ließ, dass das Parlament der Krim gewaltsam besetzt worden war, stand die Frage im Raum: Gibt es Krieg? Unsicherheit und Angst waren zum Greifen, Hotelgäste wurden aufgefordert, die weitere Entwicklung im Haus abzuwarten. Ungläubig und verzweifelt war deren Reaktion: „Heißt das, wir können nicht shoppen gehen?“
Eingenommen von der eigenen Unersättlichkeit und der des Marktes,
im Hinterhalt der Werbung brainwashed,
verloren in virtuellen Welten,
gebannt von der Sorge um die eigene Existenz,
vom Kompensationsbedürfnis erlebter Bedeutungslosigkeit getrieben,
aufgelöst im Sog großer Ideen,
geblendet vom eigenen Wertemaßstab
und von Vorurteilen konditioniert,
bedrängt von Zielen und Ansprüchen,
im Fluchtreflex vor den misslichen Seiten des Lebens verheddert,
vereinnahmt von Selbstmitleid
oder versunken in Resignation,
wirr von medialer Dauerbeflutung,
vom Hass gegen fremdes Sein verzehrt,
von fremden Imponiergesten eingeschüchtert,
außer Atem gesetzt vom eigenen Stress,
von Ehrgeiz gejagt,
besetzt von Sehnsüchten und Gefühlsüberschwang und
gezerrt vom Hang und Zwang zur Weltverbesserung,
vom Aufmerksamkeitsgeheische ermüdet,
angestiftet von der Emotionalisierungswut des Boulevards,
absorbiert von faszinierenden Entdeckungen,
gefangen gehalten in Konzepten
und in Ideologien verrannt,
erschöpft von Ersatzhandlungen,
im Füllen innerer Leere ausgebrannt,
abgetaucht in der Permanentunterhaltung,
besessen von Verschwörungsfantasien,
elektrisiert vom Kitzel des Risikos,
vom eigenen Erfolg betört oder
gelähmt von der Angst, auf der Strecke zu bleiben,
geblendet von vermeintlicher oder echter Bedeutung,
und beherrscht vom ewigen „nicht genug“.
In der Gefangenschaft unserer persönlichen Konditionierung sind wir von uns selbst und von der Welt getrennt, von der Tiefe und Breite der Empfindungen, die das Leben intensiv machen und reich.
Ich spreche nicht von „den anderen“, sondern von mir und dem eigenen Erleben. Und ich nehme mich selbst nicht aus. Eine meiner Fallen liegt in einer Aufmerksamkeit, die mir meist zwei oder drei Schritte vorauseilt und sich nur widerstrebend einfangen lässt.
Dem Allernächsten und Konkretesten zugewandt
Ich war acht Jahre alt, als unser Lehrer Herr Schneider ab Dreikönig allmorgendlich die sich ändernde Uhrzeit, zu der die Morgensonne über dem Pfänder aufblitzte, an den linken Rand der Tafel schrieb. Diese stattliche, nüchterne Zahlenreihe ist noch heute von Begeisterung und meinem Staunen derart geladen, dass sie sich als Bild von Wandel und Wiederkehr tief und warm in meine Erinnerung gegraben hat.
Im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit wachsen Verantwortung und Verstehen. Sorgfältige Hinwendung und absichtsloses Wohlwollen lassen Leben erblühen: Seelen, Kinder, Gärten und die Welt.
Es ist diese Welt- und Daseinsnähe, die mir Franz Michael Felder so faszinierend macht, seine Wachsamkeit gegenüber sich selbst und der Welt, sein umfassendes und sentimentalitätsfreies Mitgefühl mit aller Existenz, seine unerschütterliche Klarheit im Benennen von Unrecht, seine ungebrochene Wahrheitsliebe. Bei Franz Michael Felder standen Theorie und Praxis, Denken und Tun in befruchtender Wechselwirkung. Trotz der vielen Grobheiten seines Schicksals, beständigen Leids und eines viel zu frühen Sterbens, das sich einem roten Faden gleich durch sein Leben zog, war Felder ein „im Leben Angekommener“. Darin, dass Franz Michael Felder zudem Ort, Zeit und die eigene Existenz und Empfindung so vollkommen zum Ausdruck zu bringen vermochte, liegt seine Bedeutung. Vielleicht heute mehr denn je. Und wir hier sollten uns gewahr sein, dass auch Lesen ein Leben aus zweiter Hand ist.
Ich danke für die Einladung und für die Zeit und Aufmerksamkeit, die Sie meinen Gedanken geschenkt haben.
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1„Subsistenzwirtschaft oder Bedarfswirtschaft werden alle – vorwiegend landwirtschaftlichen – Wirtschaftsformen genannt, deren Produktionsziel weitestgehend die Selbstversorgung zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes einer Familie oder einer kleinen Gemeinschaft ist. Subsistenzwirtschaft umfasst auch die Erträge aus Jagen und Sammeln. […] Bei der traditionellen Subsistenzstrategie besteht keine Marktorientierung, keine ausgeprägte Arbeitsteilung und kein Profitstreben.“ Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Subsistenzwirtschaft[letzter Zugriff: 6.5.2020].
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