Nachdem mein Sohn Lukas im Rahmen seines Zivildienstes in Ecuador die Lebensumstände dortiger Bauern mitverfolgte, drängt er auf den Kauf von Fair-trade-Bananen. Und nachdem er im Zuge von Dreharbeiten Schlachthöfe und fleischverarbeitende Betriebe von innen gesehen hat, isst er kein Fleisch mehr.
Das historische Landwirtschaftsmodell
Lassen Sie mich darstellen, was sich 1783 ein in den Alterssitz weichender Bauer im salzburgischen Flachgau zur alljährlichen Unterhaltssicherung vom Hofübernehmer ausbedungen hat:
„3 Metzen Waiz, 12 Metzen Korn, 2 Mäßl Bohnen, 2 Mäßl Hirse, 3 Pfund wohlgeläutertes Schmalz, im Sommer täglich ein Viertel kuhwarme Milch, wöchentlich 6 Eier, im Winter ein Kändel Milch und 3 Eier, dann den Bedarf an Kraut, Rüben, Salz, Schotten und Licht und auch den Vierten Teil vom Obst.“ 2 2 Michael Becker und Monika Brunner-Gaurek: Führer durch das Salzburger Freilichtmuseum. Salzburger Freilichtmuseum: Großgmain 2011 (= Veröffentlichung des Salzburger Freilichtmuseums; Bd. 18), S. 89. 3 Elias Canetti: Macht und Überleben (1962). In: Ders.: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 25 – 41, hier S. 25. 4 Lao Tse: Spruch 45. In: Ders.: Tao-Te-King. In der Übersetzung von Hans J. Knospe und Odette Brändli. Zürich: Diogenes 1990, [o. P.]. 5 Luigi Pirandello: Die Riesen vom Berge. Die Mythen und andere späte Stücke. Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Richert. Mit einem Nachwort von Michael Roessner. Berlin: Propyläen 1997 (= Gesammelte Werke; Bd. 2), S. 273 – 343, hier S. 305. 6 Stefan Zweig: Phantastische Nacht. Novelle. Göttingen: LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag 2019, S. 8. 7 Hugo von Hofmannsthal: Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie. In: Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 173 – 186, hier S. 176.
Je nach Region kamen Kartoffeln, Tees, Kräuter, Honig, Säfte, Most oder Wein und Schnäpse dazu.
Vier Tiergattungen, deren Produkte und Verwertung, verschiedenste Getreidearten, Gemüse- und Obstsorten, die Gewinnung von Brenn- und Bauholz, die Formen der Lagerung und Konservierung haben die ländliche Wirtschaftsweise und den Tageslauf bestimmt, die Zyklen und Rhythmen des Lebens und das Bild des Landes.
Bitte werfen Sie auch einen Blick auf die ästhetische Dimension solcher Verhältnisse, vergegenwärtigen Sie sich die Gestalt der Landschaft und der Dörfer als Folge solchen Haushaltens. Deren Vielfalt und Schönheit folgten nicht ästhetischen Konzepten und keinen schöngeistigen Wünschen. Kaum je in unserer Geschichte – und wenn, dann nur im Umfeld der Kunst, und auch in dieser selten erfolgreich – blieben Schönheit und Nutzen unverbunden. Unzählige Alleen, die einst die Gebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie durchzogen, gehen auf Joseph II. zurück. Er verfügte, dass zur Marschverpflegung seiner Heere entlang von Landstraßen Obstbäume zu pflanzen sind. Regelmäßig schlenderte ich als Kind durch die Birnbaumallee, die das Haus meiner Großeltern mit dem Dorfzentrum verband. Sie wurde mir zur Lehrmeisterin von Raum und Poesie. Gründete ihre Schönheit gar auf einem militärstrategischen Motiv?
Immer wenn politische Funktionäre die Forderung „Grenzen dicht“ erheben, möchte ich lautstark mit einstimmen: Ja, aber wirklich dicht! Zu gerne möchte ich erleben, wie dieselben Politikvertreter ihrer Klientel erklären, wieso uns keine Bananen und Orangen aus Afrika erreichen, kein arabischer Treibstoff aus den Zapfsäulen rinnt, wieso nicht nur in Gaststätten keiner, sondern nirgendwo Tabak zu bekommen ist, und warum im Kaffeehaus selbst der „Kleine Schwarze“ des Landes verwiesen bleibt.
Sicherheitspolitik und Entfremdung
Der einstige Generalstabschef Othmar Commenda benannte als ranghöchster Verteidiger Österreichs in seinen Vorträgen wiederholt den mangelnden Selbstversorgungsgrad als größtes Sicherheitsrisiko. Für Vorarlberg kenne ich Zahlen: Während wir bei Milch und Käse weit überversorgt sind, produzieren wir gerade einmal 7 % des Bedarfs an Gemüse, 6 % an Kartoffeln und 1 % des konsumierten Getreides. Auch wenn diese Verhältnisse in anderen Teilen Österreichs weniger krass sind, im Falle eines versiegenden Treibstoffnachschubs wären die Unterschiede, angesichts der allgemeinen Unkenntnis und des fehlenden Handgeräts gering.
Wieso wird dieser Sachverhalt in allen politischen Debatten und Maßnahmen ausgespart? Wieso wird angesichts des gesellschaftlich prioritären Bedürfnisses nach Sicherheit das von Kriminellen, Terroristen und Asylanten gefährdete Eigentum und Leben als einzige Sicherheitsbedrohung suggeriert – selbst in den von Kriminaltaten am wenigsten betroffenen Regionen der Welt? Wieso stellen wir keine Verbindung her zwischen einer labilen Weltlage und dem Landbau als Sicherung unserer elementarsten Lebensgrundlage? Bedürfen wir der Autorität eines Generals oder müsste nicht ein wenig politische Bildung, ein Restbestand historischen Wissens ausreichen, um die diesbezüglichen Zusammenhänge zu verstehen?
Eigentlich meine ich, ein Blick ins Land sollte genügen. Aber ohne Liebe scheint biologisches Wissen vergebens, und ohne Begeisterung bleibt ästhetische Erziehung folgenlos. Ich fürchte, das Wesentlichste lernen wir in der Schule nicht. (Wäre das Phänomen Franz Michael Felder anders erklärbar?) Zumeist bleiben die Inhalte formaler Bildung abstrakt, zu selten verknüpfen sie uns mit der konkreten Welt.
Wäre es möglich, dass unsere Fremdheit gegenüber dem Land und seiner existenzsichernden Dimension mit etwas Größerem zu tun hat? Mit mangelnder Realitätswahrnehmung, mit fehlender „Bodenhaftung“, mit Ausweichmanövern vor dem „mit der Hand zu Greifenden“? Könnte Elias Canetti diese Wirklichkeitsverdrängung gemeint haben, als er formulierte:
„Zu den unheimlichsten Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Es besteht eine auffallende Tendenz, erst auf das Fernste loszugehen und alles zu übersehen, woran man sich in nächster Nähe unaufhörlich stößt. […] Die Situation der Menschheit heute, wie wir alle wissen, ist so ernst, dass wir uns dem Allernächsten und Konkretesten zuwenden müssen.“ 3 3 Elias Canetti: Macht und Überleben (1962). In: Ders.: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 25 – 41, hier S. 25. 4 Lao Tse: Spruch 45. In: Ders.: Tao-Te-King. In der Übersetzung von Hans J. Knospe und Odette Brändli. Zürich: Diogenes 1990, [o. P.]. 5 Luigi Pirandello: Die Riesen vom Berge. Die Mythen und andere späte Stücke. Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Richert. Mit einem Nachwort von Michael Roessner. Berlin: Propyläen 1997 (= Gesammelte Werke; Bd. 2), S. 273 – 343, hier S. 305. 6 Stefan Zweig: Phantastische Nacht. Novelle. Göttingen: LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag 2019, S. 8. 7 Hugo von Hofmannsthal: Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie. In: Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 173 – 186, hier S. 176.
Nicht bei sich und nicht bei der Sache
Vor etwa 25 Jahren besuchte uns ein befreundetes Ehepaar inklusive Schwester beziehungsweise Schwägerin – eine US-amerikanische Ernährungsberaterin. Deren Aufgabe bestand in der Unterstützung junger Mütter bei der Versorgung ihrer Babys. Ihre Schilderungen haben mich sensibilisiert für einen bestürzenden Sachverhalt: Sie erzählte von Klientinnen, die Neugeborene ausschließlich mit Zucker füttern, und von solchen, die ihren Babys steinharte, in Öl angeröstete Nudeln kredenzen, weil sie nicht wissen, dass Nudeln gekocht werden müssen.
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