Als mich Norbert Häfele zu dieser Rede einlud, konnte er nicht von meiner Felderkenntnis ausgehen. Somit fühle ich mich bezüglich der Ausrichtung meines Vortrags frei. Außer im Feld der Architektur ist es mir nicht mehr möglich, thematischen Wünschen zu folgen. Ich möchte mich den in mir drängenden Themen widmen und suche den Zusammenhang und die logische Reihung versprengter Gedanken. Gesprochenes und Geschriebenes bleiben bei mir im Umfang bescheiden. Damit bin ich versöhnt. Umso mehr, als ich ohnehin mutmaße: Wir schreiben zu viel und lesen zu viel, wir reden zu viel, wir konsumieren zu viel. Und … wir meinen und werten zu viel. Vor allem aber denken wir zu viel, zu viele jener Gedanken, die uns haben anstatt wir sie.
Franz Michael Felders Werk bin ich spät begegnet. Das hat mit einer Störung meiner Schulkarriere zu tun. Ich sage es ungeschönt: mit meinem Lehrer, einem Altnazi und gewalttätigen Schläger, der mich und andere prügelte, Neunjährige salutieren und marschieren ließ, mich mit einem Schultrauma und ohne Berechtigung fürs Gymnasium entließ. Mein Weg zum Architekten führte somit über die Hochbau-HTL in Krems an der Donau. Zum dortigen, überaus beherzten Deutschlehrer drang Felder nicht durch. Dank einer glücklichen Fügung stieß ich in Wien als Student der Kunstakademie auf Felders Bedeutung. Friedrich Achleitner erwähnte Felders Arbeit im Rahmen einer Vorlesung zur damals neuen Architektur Vorarlbergs besonders anerkennend. Das Prädikat „Weltliteratur“ im Zusammenhang mit Felder und Vorarlbergs vielversprechende Baukünstler verpassten meinem unterversorgten Vorarlberger Selbstwert einen kräftigen Auftrieb.
Franz Michael Felders Welt und Lebenswirklichkeit waren mir lange vor der Lektüre seines Werks vertraut. Die Kenntnis architektonischer Codes lässt einen aus Land-, Stadt- und Parzellenplänen Herrschaftsverhältnisse, Lebens- und Wirtschaftsformen „lesen“.
Es war ein Habsburger, der in weltweit einmaliger Weitsicht sein Reich zu Zwecken der Besteuerung vermessen ließ, einzigartige Plandokumente sowie das Fundament unseres Grundbuchs schuf. Das Aufmaß Vorarlbergs datiert exakt zu Felders Lebenszeit. Der Franziszeische Kataster ist eine historische Fundgrube der Sonderklasse und obendrein ein ästhetisches Vergnügen. Die verfertigten Mappenblätter eröffnen Rückschlüsse auf die Wirtschaftsform und Leistungsfähigkeit einzelner Bauern, auf ihre Vermögens- und Familienverhältnisse, auf die Stellung Einzelner in der Gemeinschaft, auf soziale Strukturen in Dorfgemeinschaften und deren Hierarchien. Beispielsweise verrät das Parzellengefüge das ganze Wohl und Weh des Erbrechts und damit wiederum viel von der Lebensfähigkeit der Gehöfte, die etwa durch Vorarlbergs Realteilung immer wieder auf eine harte Probe gestellt wurde. Ergänzt durch historische Stiche oder Fotografien erschließt der Franziszeische Kataster somit die Biographie ganzer Regionen.
Mit dem Leben und Wirtschaften am Land beginne ich mit einem mich ein Leben lang begleitenden und bewegenden Thema, das durch meine Rückkehr in den Vorderwälder Ort, an dem ich ab 1980 mit meiner Familie sechzehn Jahre lebte, erneuert mein Interesse gewinnt. Im Salzkammergut meiner Kindheit erlebte ich während der Sommerfrische in der Hauswirtschaft, im Gartenbau, in der Werkstatt und in den Dorfverhältnissen meiner Großeltern noch die Reste der alten Vielfalt, Fülle, Logik und Poesie eines Daseins am Land und dessen Einheit mit der Natur und dem Sein. Zudem erklärt das Privileg, den wenigen Architekten anzugehören, die durch die Planung von Landwirtschaftsbetrieben den Verhältnissen bäuerlicher Existenz nahekamen, mein Interesse an der Landwirtschaft und meine Suche nach einem erneuerten Ausgleich zwischen Nachhaltigkeit und Schönheit.
Mitte des 19. Jahrhunderts war – anders als in weiten Teilen der Monarchie – im Bregenzerwald die Zeit der Subsistenzwirtschaft 1 1 „Subsistenzwirtschaft oder Bedarfswirtschaft werden alle – vorwiegend landwirtschaftlichen – Wirtschaftsformen genannt, deren Produktionsziel weitestgehend die Selbstversorgung zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes einer Familie oder einer kleinen Gemeinschaft ist. Subsistenzwirtschaft umfasst auch die Erträge aus Jagen und Sammeln. […] Bei der traditionellen Subsistenzstrategie besteht keine Marktorientierung, keine ausgeprägte Arbeitsteilung und kein Profitstreben.“ Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Subsistenzwirtschaft [letzter Zugriff: 6.5.2020]. 2 Michael Becker und Monika Brunner-Gaurek: Führer durch das Salzburger Freilichtmuseum. Salzburger Freilichtmuseum: Großgmain 2011 (= Veröffentlichung des Salzburger Freilichtmuseums; Bd. 18), S. 89. 3 Elias Canetti: Macht und Überleben (1962). In: Ders.: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 25 – 41, hier S. 25. 4 Lao Tse: Spruch 45. In: Ders.: Tao-Te-King. In der Übersetzung von Hans J. Knospe und Odette Brändli. Zürich: Diogenes 1990, [o. P.]. 5 Luigi Pirandello: Die Riesen vom Berge. Die Mythen und andere späte Stücke. Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Richert. Mit einem Nachwort von Michael Roessner. Berlin: Propyläen 1997 (= Gesammelte Werke; Bd. 2), S. 273 – 343, hier S. 305. 6 Stefan Zweig: Phantastische Nacht. Novelle. Göttingen: LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag 2019, S. 8. 7 Hugo von Hofmannsthal: Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie. In: Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 173 – 186, hier S. 176.
schon weitgehend vorbei und die Selbstversorgung auf bescheidene Verhältnisse geschrumpft. In Felders Autobiographie kommen Kraut und Rüben gerade zweimal vor, Salat einmal, Kartoffeln oder Nüsse gar nicht. Darin liegt die wesentlichste Ursache für die Abhängigkeit von der Milchwirtschaft und die Übervorteilung durch Käsehändler. Ausbeutung war zwar als Begriff noch nicht geboren, aber die Arbeitsteilung war so weit vorangeschritten, dass dem Welthandel der Boden bereitet war. In seiner heutigen Form führt dieses System nicht mehr nur den einzelnen Landwirt, sondern den gesamten Stand an die Grenze seiner Existenz. Damit kommt eine jahrtausendealte Kreislaufwirtschaft zum Erliegen, verkümmern Biodiversität und Artenvielfalt, expandieren Abhängigkeiten und Monokulturen und wird der Landbau zu einem Hauptverursacher von Umweltschäden und Klimawandel, zum Auslöser des fatalen Attraktivitätsverlusts eines Lebens am Land, der Landflucht und letztlich zu einer globalen Bedrohung unser aller Existenz.
Heute sind Land und Landschaft die Gestalt gewordene Ignoranz ökologischer Zusammenhänge und ästhetischer Fühllosigkeit, das Ergebnis wirtschaftlicher Gier und verlorener Liebe zur Schöpfung.
Fotografien von Vorarlbergs Rheintal zum Ende des 19. Jahrhunderts lassen Ortschaften kaum erkennen, sie lagen versteckt in Obstbaumhainen. Während der großen Depression der 1930er Jahre reiste meine Großmutter in 22-stündiger Zugfahrt aus dem Salzkammergut ins Rheintal, um dort ihren Rucksack und zwei große Taschen mit Obst zu füllen.
In meinem Vorderwälder Ortsteil, von dessen zwanzig historisch belegbaren Höfen aktuell zwei eine Zukunft haben, wurden die letzten Obstbaumreste von den heurigen Februarstürmen weggefegt. Wohin, ließe sich fragen.
Ein Südtiroler Apfelbauer hat mir sein Leid geklagt. Derzeit erlöse er nur noch 10 bis 17 Cent für ein Kilo Golden Delicious. Sie wissen, dass wir für ein Kilo Äpfel teils das Dreißigfache bezahlen? Wo bleiben die Gewinne? Denn selbst ihre schäbigen Prozente haben die Bauern mit Düngemittel- und Maschinenproduzenten zu teilen. Der Handel forciert gewisse Sorten, und wenn sich deren Hype verbraucht, beginnt in Südtirol der Kahlschlag. Riesige Plantagen werden aktuell gerodet, um eine neue Sorte anzubauen. Sie können sich jetzt schon gefasst machen, in Kürze werden wir im Apfelregal des Supermarkts auf den Shinano Gold treffen. Die Unbill wurde neu gekleidet. Gemäß Bert Brechts Feststellung, dass der Wahnsinn unsichtbar wird, sobald sein Ausmaß groß genug ist, wurden die „Käsegrafen“ zahl-, namenlos und unsichtbar. Und je ferner die konkreten Produktionsverhältnisse unserem Blickfeld rücken, umso brutaler wird ihr Vergehen an Mensch und Natur.
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