Seit 2018 reagieren iranische Kräfte auf israelische Luftangriffe in Syrien mit Gegenangriffen durch Drohnen- oder Raketenbeschuss auf israelisch kontrolliertes Territorium. Am Persischen Golf kam es 2019 zu Attacken auf Tanker, Ölanlagen und Kasernen, wobei die Urheber im Dunkel blieben. Doch dürfte es sich um eine verdeckte Auseinandersetzung zwischen dem Iran auf der einen und den USA, Saudi-Arabien und den VAE auf der anderen Seite handeln. Ein offener Krieg zwischen den regionalen und globalen Mächten würde die Großregion noch weiter destabilisieren und bislang noch konfliktfreie Länder einbeziehen.
2.5 Gewinner unter den externen Mächten
Zieht man nach einem Jahrzehnt eine Zwischenbilanz, so sind Russland, der Iran und Israel die Gewinner unter den externen Einflussmächten.
Im Jahr 2015 machte Moskau mit einem Paukenschlag in Syrien deutlich, dass es die Entwicklungen in der arabischen Welt mitbestimmen wird. Im September des gleichen Jahres folgte das Land einer Einladung der al-Assad-Regierung und intervenierte militärisch aufseiten der Regierungskräfte. Dies geschah mit begrenztem Kräfteeinsatz: ca. 60 Kampfflugzeuge, ca. 25 Kampfhubschrauber, maximal 4 000 Soldaten, ergänzt durch private »Militärdienstleister«. Einerseits will Russland seinen langjährigen Partner (und Schuldner) an der Macht halten, andererseits ist es bestrebt, Radikalislamisten und Dschihadisten schon weit vor dem eigenen Staatsgebiet zu bekämpfen. So kämpften in Syrien zahlreiche Extremisten aus Russland, z. B. Tschetschenen, Dagestaner und andere. Die aus der Zeit des Kalten Kriegs noch bestehende Marinebasis Tartus ergänzte Russland um einen neuen Luftwaffenstützpunkt in Hmeimin bei Latakia an der syrischen Mittelmeerküste. In Syrien konnte es über 200 Waffensysteme zur Anwendung bringen, wodurch die russische Rüstungsindustrie einen großen Aufschwung erfuhr. Darüber hinaus knüpft Moskau vom Sprungbrett Syrien aus an alte Verbindungen an und strebt eine vom Irak über Syrien und Ägypten bis nach Libyen und möglicherweise Algerien reichende russische Einflusszone an. So besuchte Wladimir Putin 2015 und 2017 Ägypten, das zum Ärger Washingtons hochmoderne Su-35-Kampfjets in Russland bestellte. Von Nordafrika aus hat Russland auch seine Beziehungen zu vielen afrikanischen Staaten südlich der Sahara intensiviert. 21
Am 10. Februar 2007 hatte Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz die kapitalistische Ausbeutung des Nahen und Mittleren Ostens durch den Westen kritisiert, die Radikalismus und Extremismus fördere. Auch sprach er sich gegen eine monopolare Dominanz der USA aus. 22In einem Interview mit al-Dschasira am selben Tag kritisierte er die Widersprüche der USA bei der angeblichen Demokratisierung des arabischen Raums und schlug eine internationale sicherheitspolitische Konferenz im Verbund mit der LAS vor. Als die einflussreichen internationalen Akteure bezeichnete er damals »die USA, Europa und Rußland«. 23Die Konferenz kam nie zustande, doch Russland engagierte sich nun immer stärker im arabischen Raum. Mit der Vermittlung eines internationalen Abkommens zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen gelang Moskau im September 2013 ein erster diplomatischer Coup.
Russland stimmt seine Nahmittelostpolitik mit der israelischen Regierung ab und hat dort mit den über 1 Mio. seit 1990 zugewanderten russischen Juden einen Fuß in diesem Land. In Syrien koordinieren beide Staaten die Luftraumüberwachung. Russland ist Partner Israels bei der Erschließung der Erdgasvorkommen im Mittelmeer und profitiert vom Technologietransfer. Gemeinsame Interessen sind die Bekämpfung islamistischer und dschihadistischer Bewegungen. Einer Demokratisierung der arabischen Staaten stehen beide Staaten skeptisch gegenüber.
Bemerkenswert ist die russische Annäherung an die Golfmonarchien. So kam es im Oktober 2019 zu einem Gipfeltreffen zwischen Präsident Putin und dem saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman in Riad. In den Bereichen Energie, Kernkraft und Agrarwesen wird eine enge Kooperation angestrebt. Auch bot Putin dem langjährigen Alliierten der USA die Lieferung des modernen Luftwaffenabwehrsystems S-400 an. 24Russland und Saudi-Arabien teilen die Ansicht, dass Stabilität im arabischen Raum Vorrang vor Demokratisierungsbestrebungen hat, und sie arbeiten bei der Bekämpfung der (in Russland bereits seit 2003 verbotenen) Muslimbruderschaft sowie dschihadistischer Bewegungen zusammen.
Es gelang Russland sogar, die im Nahen und Mittleren Osten glücklos agierende Türkei dem Westen zu entfremden und sich anzunähern. Krönung dieses Vorhabens ist die Lieferung des Luftabwehrsystems S-400 an das NATO-Mitglied Türkei trotz massiver Bedenken der USA und der anderen NATO-Partner. In seiner Syrien-Politik ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan inzwischen von russischer Zustimmung abhängig, so bei seinen Militäroffensiven 2019 im Nordosten und 2019/20 im Nordwesten Syriens. Der geopolitische Vordenker und Putin-Berater Alexander Dugin formulierte als Ziel einen »Mittleren Osten ohne westliche Präsenz«, für dieses Projekt »brauchen wir die Türkei und den Iran als Alliierte«. 25
Mit dem Iran koordiniert Russland die Anstrengungen zur Stützung der al-Assad-Regierung. Nach Abschluss des vom Sicherheitsrat unterstützten Nuklearabkommens mit dem Iran (2015) sagte Moskau Teheran trotz US-amerikanischer Einsprüche die Lieferung des älteren Luftabwehrsystems S-300 sowie von Kampflugzeugen, Hubschraubern und Artillerie zu. Gasprom modernisiert die iranische Energieindustrie, und auch im Agrarwesen, der Industrie und dem Telekommunikationswesen wurden Kooperationen vereinbart. Russland unterstützt eine Vollmitgliedschaft des Irans in der wirtschafts- und sicherheitspolitischen Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Im Sommer 2019 fand erstmals ein gemeinsames Marinemanöver im Golf von Oman von China, Russland und dem Iran statt.
Freilich darf man nicht übersehen, dass aus historischer Perspektive Russland und Persien Erbfeinde sind. Das säkulare Russland wünscht keine allzu große Machtausweitung oder gar atomare Bewaffnung des Irans, und es könnte den gegenwärtigen Partner zum gegebenen Zeitpunkt zugunsten eines lohnenden Arrangements mit anderen Mächten opfern.
Russland hat das Kunststück vollbracht, gute Beziehungen mit allen relevanten Regionalmächten herzustellen. Es ist heute der Schiedsrichter, ohne den in Syrien und darüber hinaus nicht gehandelt werden kann. Doch dürfte es immer schwieriger werden, die antagonistischen Interessen seiner Partner auszubalancieren.
Der Iran ist mit einer Bevölkerung von 81 Mio. Menschen, einer Fläche von 1,6 Mio. Quadratkilometern, einer Truppenstärke von 610 000 Mann und einer Jahrtausende alten imperialen Tradition ein bedeutender regionaler Akteur. Zwar sind die Streitkräfte teilweise veraltet, doch verfügt der Iran über hochmoderne Drohnen und Raketen, die er selbst produziert. 26
Seinen Einfluss in Nahmittelost konnte er seit den 1990er-Jahren stark erweitern. Strategisches Ziel ist eine Landbrücke über den Irak, Syrien und den Libanon bis zum Mittelmeer, möglicherweise strebt Teheran einen Militärstützpunkt an der syrischen Küste an. Seit 2005 beeinflusst der Iran die Politik im überwiegend schiitischen Nachbarland Irak, er hat die syrische Regierung politisch, militärisch und ökonomisch von sich abhängig gemacht und instrumentalisiert geschickt asymmetrische militärische Akteure in weiteren Staaten. Gegner des Irans, nämlich Israel, Saudi-Arabien und die USA, unterstellen dem Iran expansionistische Pläne. Hingegen sieht sich die iranische Politik in der Defensive. Man konstatiert, dass das Land in den vergangenen 200 Jahren immer wieder von außen angegriffen oder destabilisiert wurde, vom Irak in den 1980er-Jahren sogar mit Massenvernichtungswaffen. Teheran reklamiert eine Einkreisung durch die USA: In Afghanistan, Bahrain, Georgien, Irak, Israel, Katar, Kuwait, dem Oman, Pakistan, der Türkei und den VAE befinden sich US-Militärstützpunkte. Auch ist das Land von drei Nuklearmächten umgeben (Israel, Pakistan und Russland).
Читать дальше