»Ich weiß sogar, in welchem Sternbild Beteigeuze liegt, nämlich im Orion. Das hättest du jetzt nicht gedacht, stimmt’s?«, sagte Mira, bevor eine andere Sache ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.
Über den Hof vor dem Salinengebäude kam eine Gruppe von Menschen in bunten Gewändern, jüngere, ältere, vor allem Frauen, aber auch ein paar Männer, die sich um einen weiß gelockten Mann scharten, der erzählte und gestikulierte, während die anderen sich aufs Zuhören verlegt hatten. Der geborene Anführer oder der »Guru«, wie Sascha ihn für sich nannte.
»Ein schöner Mann«, bemerkte Mira.
»Findest du?«, fragte Sascha und wunderte sich kaum. Alle Frauen fanden den Guru anziehend. Dagegen war nichts zu machen. »Aber ganz schön alt.«
»Er wirkt irgendwie vergeistigt.«
»Charismatisch«, sagte Sascha.
»Stimmt.« Mira nickte. »Wer ist er, kennst du ihn?«
»Ein Künstler. Er leitet Malklassen an der Bad Reichenhaller Kunstakademie. Und er ist ihr Häuptling.«
»Ihr habt eine Kunstakademie in Bad Reichenhall?«
»Und eine Philharmonie. Also ein ganzes Orchester. Übrigens das einzige Berufsorchester in Oberbayern außerhalb von München.«
Mira staunte hinter ihrer riesigen Sonnenbrille, hakte aber noch einmal beim Häuptling nach. So einfach ließ sie sich nicht von Sascha ablenken.
»Du kennst diesen Künstler oder Kunstprofessor also?«
Sascha nickte.
»Er könnte dein Vater sein«, sagte sie. Sascha schwieg. »Er sieht dir sogar ein wenig ähnlich. Aber das kann nicht sein, oder?«
Sascha zuckte die Achseln. Nein, er würde Mira jetzt nicht sagen, dass sie einen Volltreffer gelandet hatte und der Kunstprofessor Robert Zorn in der Tat sein leiblicher Vater war, der in München und Berlin lebte und nur für einige Wochen im Jahr nach Bad Reichenhall an die Akademie kam, um einen Kurs zu halten. Jedes Jahr gab es dafür Wartelisten, denn die meisten seiner Schüler meldeten sich sofort wieder für den nächsten Kurs an, und so wurden immer nur wenige Plätze für das folgende Jahr frei. Die diesjährige Gruppe folgte ihm jetzt wie die Küken der Entenmutter über die Straße. Seine Mutter war auch einmal so ein Küken gewesen.
Als die Gruppe an der Terrasse des Cafés vorbeizog, sah der Guru in Saschas Richtung und nickte ihm zu. Nicht überschwänglich oder herzlich, eher neutral, als sei Sascha einer seiner Ex-Schüler, der schon lange nicht mehr bei ihm war, an den er sich aber immer noch flüchtig erinnerte. Nicht als Individuum, sondern als Kunstaspirant und Schöpfer von Gemälden oder Skulpturen, die entweder misslungen oder vielleicht auch gelungen waren, dem Meister aber keinesfalls das Wasser reichen konnten.
»Er wirkt sehr interessant«, stellte Mira fest. »Vielleicht könnte ich einen Kurs bei ihm besuchen?«
»Ja, vielleicht«, sagte Sascha etwas angesäuert.
»Ich habe leider eine Schwäche für dominante Vaterfiguren«, gab Mira zu. »Einen von ihnen habe ich sogar geheiratet.«
Sascha liebte die Russen. Ganz besonders liebte er Tschechow und Dostojewski. Nur dass der leidenschaftliche, aber natürlich glücklose Spieler Dostojewski in seinem berühmten Roman Der Spieler geschrieben hatte, dass es am Roulettetisch viel Pöbel gäbe und er auch die Croupiers dazuzählte, das verzieh Sascha ihm nie. Dabei hatte es das Automatenspiel, das manche Leute für vulgär hielten, damals noch nicht einmal gegeben. In der Bad Reichenhaller Spielbank herrschte zwar kein Sakkozwang, aber gepflegte Kleidung war erwünscht, und die meisten hielten sich daran. Im Großen und Ganzen sogar die Automatenspieler. Wobei einer von ihnen, Stammgast Rainer, Sascha einmal gesagt hatte, es sei schon eine seltene Idiotie, dass er sich extra schön anziehen müsse, um sein Geld im Casino zu verjuckeln.
Als Sascha seine Spätschicht antrat, hatte er, wie immer, wenn er zum Dienst erschien, mit dem anthrazitfarbenen Anzug, dem weißen Hemd und der schmalen Krawatte seine Uniform angelegt und war ein anderer geworden. Eine Instanz. In dieser Rolle gefiel Sascha sich. Sie machte ihn unberührbar.
Er löste zuerst den Kollegen am Black Jack ab, danach wechselte er zum Roulette. Drei, vier Spieler befanden sich am Tisch, keiner sprach ein Wort. Ein älterer Typ Mitte sechzig, stand rechts neben ihm, blauer Anzug, hellblaues Hemd, grauer Kurzhaarschnitt, keine Krawatte. Brillenfassung silberfarben, wache hellblaue Augen, steile Stirnfalten. Ein Denker. Er stand da mit verschränkten Armen und sah Sascha auf die Finger, genauer, auf die Finger seiner rechten Hand, mit denen er die Kugel in den oberen Rand des Roulettekessels schoss. Eine, zwei Runden, und rien ne va plus . Für die Nicht-Sprachkundigen: »Nichts geht mehr.« Der Mann im stahlblauen Anzug beobachtete nur, er spielte nicht. Seine Jetons, wenn er überhaupt welche hatte, bewahrte er in den Sakkotaschen auf. Was wollte der Mann? War er vom Finanzamt oder von der Spielbankaufsicht? Lag irgendetwas gegen ihn, Sascha, vor, stand er unter Verdacht? Blödsinn, dachte er, das müsste ich doch selbst am besten wissen, wenn ich mir etwas geleistet hätte, was nicht korrekt ist. Da war aber nichts. Rien .
Zwei Frauen betraten den Saal, in dem Kleines und Großes Spiel ohne Trennung gespielt wurde. High Heels mit zehn Zentimetern plus, die Stilettos der Blondine metallisch glänzend, enge schwarze Lederhose, Bluse mit Durchblick, Blazer mit Schößchen über dem wohlgeformten Hintern. Die Blicke aller Männer wanderten zu den vielfachen Highlights dieser Erscheinung, selbst von denen, die vorgaben, nicht hinzusehen. Auch von den vierundsechzig Kameras der Staatlichen Lotterieverwaltung, die sich inner- und außerhalb der Bad Reichenhaller Spielbank befanden, waren mit Sicherheit einige auf sie gerichtet. Ihre brünette Freundin hätte Jetons vom Spieltisch klauen können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre, so sehr war die Aufmerksamkeit der Anwesenden fokussiert. Mit Ausnahme von Sascha, denn er war hier der Profi. Die beiden Frauen nicht unbedingt. Die Blonde spielte entweder Rot oder Schwarz und einmal ihre Glückszahl. Das war die 18. Dann setzte sie wieder auf Rot oder Schwarz. Ihre Freundin spielte variabler, ein paar Mal Colonne, also eine der drei Zwölferreihen. Sie hatte damit etwas mehr Glück, machte aber nur kleine Gewinne. Dann spielte sie Carré auf vier Zahlen, schließlich sogar eine Transversale auf drei Zahlen: 19, 20 und 21. Sie spielten beide nicht auf Ex, sondern behielten einen Grundstock an Jetons und flatterten damit bald an die Bar. Die blonde lange Mähne schimmerte im Halbdunkel wie eine Goldader im Fels. Währenddessen stand der Blaumann immer noch da, mit einem Blick kalt wie eine Hundeschnauze, und fixierte den Kessel und Saschas Einwurf der Kugel. Auch der Saalchef war auf ihn aufmerksam geworden.
In Las Vegas hatte es in den Siebzigerjahren einen Mathematikprofessor gegeben, der auf die Idee gekommen war, in den Weihnachtsferien mit seiner Frau ins Casino zu gehen und dort ein bisschen zu spielen. Zum Vergnügen. Als Mathematiker erkannte er schnell, dass alle todsicheren Systeme, sämtliche Methoden der Spieler, die er dort beobachtete, völliger Blödsinn waren. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance, gegen das Casino zu gewinnen. Dann ging er nach Hause und setzte sich an seinen Schreibtisch, um zu rechnen. Zusammen mit seinem besten Kumpel, einem späteren Nobelpreisträger, errechnete er ein System, um das Roulette zu knacken. Die beiden fütterten einen aus heutiger Sicht vorsintflutlichen Computer mit ihren beobachteten und ermittelten Daten und erschienen dann mit ihrem Rechner, dem ersten tragbaren der Welt, erneut im Casino. Die Überraschung gelang, man unterschätzte die beiden Herren und ihre Rechenmaschine und ließ sie herein. Keiner ahnte, dass ihr System tatsächlich Erfolg haben würde. Sie mussten dafür mehrere Faktoren kennen: das Wurfverhalten des Croupiers, die Zahl der Runden, die die Kugel lief, bevor sie sich auf eine Zahl legte, sowie die geschätzte Geschwindigkeit der Kugel in der ersten Runde des fast widerstandslosen Laufs. Wenn sie dann noch die Möglichkeit rechnerisch einkalkulierten, dass die Kugel springen konnte, bevor sie landete, kamen sie bzw. ihr Computer auf eine erstaunliche Quote bei der Vorhersage, auf welcher Zahl die Kugel liegen bleiben würde. Plus minus zwei bis drei Zahlen nach rechts oder links. Noch genauer ging es nicht, aber das war doch schon ziemlich präzise.
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