Es klang nicht so, als sei es ihr größtes Ziel, den Anforderungen ihres Alltags wieder die Stirn zu bieten. Zumindest schien sie noch sehr weit entfernt davon.
»Sie wirken mental gar nicht so schwach, aber offenbar hat Sie etwas ausgeknockt und vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Verzeihen Sie, ich bin natürlich kein Psychologe, ich sage nur meine Meinung als Laie. Oder besser gesagt, meinen ersten Eindruck. Ich kenne Sie ja gar nicht.«
»Ich Sie auch nicht. Ich weiß nur, dass Sie Sascha heißen, etwas jünger sind als ich, offenbar hier leben, Physiotherapeut sind …«
Sascha wollte es fast schon richtigstellen, aber das ließ er lieber bleiben. Die Wahrheit würde ihm jetzt gerade nichts helfen, und ihr auch nicht.
»… und dass Sie nicht so richtig hierher passen.«
»Wie meinen Sie das?« Sascha wurde es mulmig. Seine Tarnung würde doch hoffentlich nicht sofort auffliegen?
»Sascha heißen die Jungs bei uns im Osten, reihenweise, oder sie hießen früher so. Sascha, Meik, Rico, Kevin. Na, jetzt vielleicht nicht mehr. Heißen Sie wirklich so?«
»In meiner Geburtsurkunde steht Alexander«, gab Sascha zu.
»Ach so«, sagte Frau Schimmel.
Der Pferdename passte zu ihrer vornehmen Blässe, jetzt erst kam Sascha auf das Naheliegende.
»Und dieser dunkle Typ, der Sie sind, kommt das von irgendwelchen Italienern in Ihrer Verwandtschaft?«
»Nicht dass ich wüsste. In meiner Familiengeschichte ist eher das slawische Element vertreten, etwas Russisches. Daher auch mein Rufname.«
»Aha«, sagte sie. »Jetzt ist der Fango etwas kühler geworden, so lässt es sich besser aushalten.«
Als Sascha vorschlug, die Packungen abzunehmen, weil er sie jetzt noch massieren wollte, lehnte sie ab. Das sei so gemütlich mit dem kalten Schlamm auf ihrem Rücken. Sascha wickelte sie in ein großes Handtuch, und als er es an den Seiten unter ihren Körper schob, bemerkte er, dass sie gerade am Einschlafen war. Was sollte er jetzt tun? Sie aufwecken? Nein, das kam ihm irgendwie grausam vor. Depressive Menschen hatten oft Schlafprobleme. Da wäre es ja geradezu Folter, sie mutwillig aufzuwecken, sobald sie einmal eingeschlafen waren. Konnte der Fango im kalten Zustand irgendeinen Schaden auf dem Rücken eines Menschen anrichten? Wohl kaum. Er ging hinaus, um die Frage auf seinem Smartphone zu googeln. Er fand nichts, was dagegensprach. Also ließ er sie schlafen.
Er schaltete die Espressomaschine wieder an, die bereits sauber gemacht und ausgeschaltet war. Goss Wasser in den Behälter, wartete, bis das Wasser heiß war, füllte Kaffeebohnen ein. Die Maschine machte ziemlichen Lärm, er hatte die Tür zur Küche offen gelassen. Er horchte. Nichts. Er trank seinen Kaffee. Keine Nachricht auf seiner Mailbox, keine WhatsApp-, keine Facebook-Nachricht. Nicht einmal eine SMS, ein Kanal, den seine Tante Paulina benutzte, wenn sie ihm nicht auf Band sprach, oder auch seine Mutter.
Bei der zweiten Tasse Espresso ging die Kabinentür auf, und Saschas Patientin kam vollständig angezogen heraus. Er stellte die Espressotasse ab.
»Oh, kann ich auch einen haben?«, fragte sie.
Sascha kalkulierte, dass er mit Fangopackungen-Auflegen und fünfzehn Minuten Plaudern plus zwei Espressi hundert Euro verdient hatte, nicht zu vergessen das Abendessen, das ihm Ulli versprechen musste. Kein schlechter Schnitt. Er brühte seiner Patientin einen Espresso, was er auch ziemlich gut konnte, und legte in der Zwischenzeit noch den Fango zurück, warf das Handtuch zur Wäsche und schloss die Kabinentür.
»Ich habe so wunderbar geschlafen. Darf ich denn morgen wiederkommen?«
»Morgen ist dann Ulli, also der Chef, bestimmt wieder persönlich für Sie da«, sagte er freundlich.
»Ich will aber gar nicht zu Herrn Böllmann«, antwortete die blasse Frau Schimmel. »Ich will zu Ihnen … oder dir. Wollen wir uns nicht duzen? Ich heiße Mira.«
Das wusste Sascha schon, aber ob er noch einmal wiederkommen wollte und ob er überhaupt dürfte, das wusste er nicht. Er ließ seine Patientin jedenfalls noch den Behandlungsplan unterschreiben, wie Ulli es ihm aufgetragen hatte. Eine physiotherapeutische Behandlung war das sicher nicht gewesen, aber immerhin eine, die ihr gutgetan hatte.
»Darf ich Sie noch zu Ihrem Hotel begleiten?«, fragte Sascha. »Ich habe jetzt Feierabend.«
»Ins Hotel?«, fragte sie. »Und was soll ich da? Ich fühle mich gerade wie neugeboren. Ich könnte Bäume ausreißen. Ins Hotel kann ich später immer noch.«
»Ich dachte, vielleicht wartet jemand auf Sie?«
»Nein, mein Mann ist noch in Berlin. Er wird erst zu diesem Kongress in die Stadt kommen. Noch bin ich allein hier und frei.«
Sie verließen die Praxis, Sascha hatte den Schlüssel eingesteckt, als wäre es seiner, und nun standen sie zusammen in der Rinckstraße, inmitten imposanter Villen aus der Gründerzeit. Die Verkehrsberuhigung hatte der Straße einige große Sträucher und Laubbäume beschert, die die stattlichen Häuser lebhaft beschatteten. Für die Autos war die Straße dagegen ein Hindernislauf: Baum, Verkehrsinsel, Pflanzkübel, Parkverbot.
»Wo ist denn jetzt hier eigentlich das Stadtzentrum?«, fragte Mira Schimmel. »Ich fürchte, ich kenne mich immer noch nicht aus in Bad Reichenhall. Ich meine, groß ist die Stadt ja nicht wirklich. Aber kaum gehe ich ein paar Straßen entlang, habe ich die Fußgängerzone schon wieder verpasst, dabei ist das ja fast die einzige Straße, in der irgendwas los ist, oder?«
»Mit Größe können wir nicht unbedingt punkten, das stimmt. Aber dafür habt ihr in Berlin keine Berge außen herum.«
»Ach, das da?«, fragte Mira und zeigte auf den Hochstaufen und den Predigtstuhl. »Was macht man denn damit? Ich meine, was kann man damit eigentlich anfangen?«
Sascha war sich sicher, dass sie ihn verkohlte, aber er erkannte keine Anzeichen eines Schmunzelns in ihrem Gesicht. Sie schien es ernst zu meinen.
»Zu Fuß hinaufsteigen oder mit der Seilbahn hinauffahren?«, schlug Sascha vor.
»Und wozu?«
»Hm, vielleicht solltest du es einfach mal ausprobieren. Das ist ein, wie soll ich sagen, sehr persönliches Erlebnis. Ich meine, den einen fasziniert es, sich einen Berg zu Fuß zu erlaufen und dann von oben ins Tal hinunterzublicken, höher als vom höchsten Kirchturm. Den anderen lässt es vielleicht kalt, obwohl, von der Sorte kenne ich nicht viele. Wenn ich es mir recht überlege, eigentlich niemanden.«
Sie waren inzwischen auf der Salzburger Straße stadteinwärts unterwegs.
»Das Grandhotel Axelmannstein«, zeigte Sascha in der Art eines Stadtführers. »Gegenüber das Kurmittelhaus der Moderne, in reinstem Jugendstil, dahinter der Kurpark. Neben den bayerischen Königen war zum Beispiel auch Richard Wagner hier zur Kur und hat in Bad Reichenhall seine spätere Gattin Cosima getroffen.«
»Aha«, sagte Mira Schimmel, »dann war sie wohl noch nicht seine Frau, als er sie hier traf.«
»Stimmt, da war sie noch mit einem anderen verheiratet«, antwortete Sascha, der über Wagner nur das Nötigste wusste. Aber er hatte jetzt eine Idee. »Wie wär’s mit einem Apéro?«, fragte er, denn das hatte er ja schon vor über einer Stunde Ulli fragen wollen.
»Das ist ja mal eine prima Idee«, stimmte seine Patientin zu und warf einen Blick in die Auslage eines kleinen Geschäfts, das sie gerade passierten. »Und was ist das hier?«
»Ein Strumpfladen, würde ich sagen. Strümpfe, Strumpfhosen, Socken eben.«
»Niedlich«, kommentierte sie. »Ich glaube, das gibt es in Berlin gar nicht, so einen Laden.«
Bei dem schönen Frühsommerwetter waren doch einige Leute in der Ludwigstraße, der hiesigen Fußgängerzone, unterwegs. Nicht so viele wie in der Kaufingerstraße in München oder der Getreidegasse in Salzburg, aber auch in Reichenhall füllten sich die Terrassen der Cafés und Eisdielen, Flaneure blieben zum Ratschen stehen, sobald sie Bekannte trafen, und wenn es nur ein paar Worte waren, die sie miteinander wechselten. Vor dem Café Reber schwebte nicht nur Schokoladen- und Tortenduft, sondern auch eine Klangwolke klassischer Musik. Bestimmt Mozart, denn er war die Hauptperson bei Reber. Der Komponist stand mit Geige als Bronzefigur im reberschen Mozart Hofgarten, und die Mozartkugel war eine Reber-Spezialität. Nicht dass Mozart je in Bad Reichenhall gewesen wäre, aber immerhin nahe dran, nämlich in Salzburg.
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