»Natürlich nicht«, erklärte er ruhig. »Ob du mir nun glaubst oder nicht: Tatsache ist, ich habe sie ein gutes Jahr vor ihrem Tod zum letztenmal gesehen.«
»Warum hast du denn nichts davon erzählt?«
»Alle Welt redet über Annabelle Müller, schnüffelt in ihrem Leben, stellt Vermutungen an. Und da hätte ich sagen sollen: Ich weiß, was für eine Frau sie war, ich habe sie persönlich gekannt! Das konnte ich einfach nicht.«
»Aber mir, wenigstens mir hättest du das doch sagen müssen!«
»Gerade dir nicht. Wenn sie nicht auf diese Weise umgekommen wäre, dann hätte ich dir bestimmt von dieser Freundschaft erzählt. Es war ja nichts dabei. Sie war eine sehr gut aussehende und auch sehr charmante Frau, wir haben uns ein paarmal getroffen … Aber sie hat mir nichts bedeutet, und ich ihr noch weniger. Sobald ein zahlungskräftiger Kavalier auftauchte … ich nehme an, es war dieser Heinrich Groß … ließ sie mich fallen wie eine heiße Kartoffel. Du siehst, ich habe eine ziemlich schäbige Rolle in diesem Drama gespielt.«
Ellen Krone war schon fast überzeugt, daß er die Wahrheit sprach, sie sehnte sich danach, ihm glauben zu können, dennoch sagte sie zögernd: »Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Was?«
»Daß eine Frau dich wegen eines Heinrich Groß verläßt!«
»Du darfst Annabelle Müller nicht mit dir vergleichen«, sagte er ernst. »Sie war eine Goldgräberin. Sie suchte nicht nach Liebe und war weit davon entfernt, Liebe zu geben. Sie war eine Spielerin, ihre Hingabe war der Einsatz, und es kam darauf an, viel zu gewinnen!«
»Und wann, sagst du, hast du sie zum letztenmal gesehen?«
»Wir waren für Silvester verabredet. Aber da hatte sie wahrscheinlich schon den anderen kennengelernt, denn sie sagte in letzter Minute ab. Ich hatte schon einen Tisch für uns reservieren lassen und war ziemlich böse über ihre Absage. Trotzdem rief ich noch einmal an, und da erklärte sie mir klipp und klar, daß alles zwischen uns aus sei. Das muß in der ersten Januarwoche gewesen sein, und im September darauf ist sie ermordet worden. Du siehst also …«
»Trotzdem hättest du dich als Zeuge melden sollen«, sagte sie schwach.
»Aber Ellen! Damit hätte ich mich doch nur lächerlich gemacht! Ich habe während der kurzen Zeit unserer Beziehungen sehr wenig über sie gewußt und dann jeden Kontakt mit ihr verloren. Wie hätte ich denn der Polizei helfen können!«
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie aufatmend.
»Nicht vielleicht, sondern ganz bestimmt! Glaub mir, Ellen, diese Frau hat mir wirklich nichts bedeutet! Hätte ich denn sonst vollkommen vergessen, daß ich ein Foto von ihr habe? Hätte ich es achtlos herumliegen lassen?«
Sie lächelte unter Tränen zu ihm auf. »Es ist nicht herumgelegen, es steckte hinten in deinem Fotoalbum!«
»Und als du es entdeckt hast, bist du natürlich eifersüchtig geworden.
Meine arme kleine Ellen!« Er nahm sie in die Arme, und diesmal wehrte sie sich nicht, sondern schmiegte sich eng an seine Brust. »Wie mußt du dich gequält haben! Aber nun ist alles gut, ja? Nun vertraust du mir wieder?«
Ohne es selber zu merken, seufzte sie tief und erleichtert. »Von ganzem Herzen!«
»Bitte, schelten Sie mich nicht!« flehte Carola Groß. »Ich habe es ja nicht gewußt! Ich war wirklich überzeugt, daß niemand gehört hatte, wann ich nach Hause gekommen war. Wie konnte ich denn ahnen …« Ihre Stimme versagte, sie schluchzte verzweifelt auf.
»Mit dieser Lüge haben Sie meine ganze Verteidigung sabotiert«, rief Rechtsanwalt Dr. Suttermann und fuhr sich nervös über sein dichtes, graumeliertes Haar. »Sie sind mir in den Rücken gefallen! Das war unverantwortlich … einfach unverantwortlich von Ihnen!«
Der wachhabende Justizbeamte im kleinen Zimmer des Justizgebäudes gab sich alle Mühe, ein teilnahmsloses Gesicht zu zeigen, aber der Ausdruck seiner Augen verriet sein waches Interesse.
»Wie oft habe ich Ihnen ans Herz gelegt«, sagte Dr. Suttermann, »die ganze Wahrheit zu sagen! Wie oft habe ich mich bemüht, Ihnen klarzumachen, daß wir nur durch die völlige Glaubwürdigkeit Ihrer Aussage das Urteil beeinflussen können! Ich war so sicher, Sie hätten mich verstanden. Aber nein! Da gehen Sie hin und erzählen dumme Lügen! Daß Sie bis neun bei der Ermordeten gewesen und dann gleich nach Hause gefahren wären. Es ist wirklich zum Wahnsinnigwerden!«
»Aber … begreifen Sie denn nicht … ich hatte einfach nicht den Mut, zuzugeben, daß ich nicht sofort nach Hause gefahren bin! Wer hätte mir denn geglaubt? Alle, auch Sie, Herr Rechtsanwalt, hätten doch angenommen, daß ich länger bei der Ermordeten war. Daß ich die Flasche Cognac vielleicht geleert, das Gift ins Glas geschüttet hätte. Dabei bin ich wirklich nur so durch die Straßen gefahren … um mich abzureagieren, um meine Gedanken zu ordnen … mir zu überlegen, wie ich nach diesem Gespräch meinem Mann gegenübertreten sollte!«
»Sie können nicht erwarten, daß Ihnen das jetzt … nachdem Sie sich erst in ein ganzes Lügennetz eingewickelt haben … noch einer der Geschworenen abnimmt!«
»Ich weiß«, sagte Carola Groß mit erstickter Stimme, »ich weiß ja, daß ich einen Fehler gemacht habe!« Mit einem plötzlichen Aufbegehren fügte sie hinzu: »Aber geglaubt hätte mir niemand, auch wenn ich von Anfang an die Wahrheit gesagt hätte! Alle halten mich für die Mörderin … auch Sie, Dr. Suttermann!«
Der Rechtsanwalt erhob sich, griff nach seiner Aktentasche. »Wenn Sie dieser Überzeugung sind, Frau Groß, dann ist es wohl besser, ich lege die Verteidigung nieder!«
Carola Groß starrte ihn mit halb offenem Mund und von Tränen geröteten Augen an, ein Bild des Jammers. »Sie wollen mich im Stich lassen?« fragte sie fassungslos. »In dieser Situation?«
»Ich sehe keine Möglichkeit, Sie weiter zu verteidigen. Ich kann Ihrem Wort nicht mehr vertrauen, und Sie …«
»Ich kann Sie nicht zwingen, mich weiter zu verteidigen«, erklärte Carola Groß mit überraschender Würde, »Sie müssen selber wissen, was Sie tun. Aber wenn Sie mich jetzt verlassen, werden Sie mit dafür verantwortlich sein, wenn ein Fehlurteil gefällt wird. Jeder wird den Schluß ziehen, daß Sie die Verteidigung deshalb niederlegen, weil Sie von meiner Schuld überzeugt sind.«
Rechtsanwalt Dr. Suttermann zögerte. »Sie dürfen nicht glauben, daß ich mir keine Skrupel mache …«
»Sie und Ihre Skrupel!« rief Carola Groß empört. »Gehen Sie, gehen Sie! Worauf warten Sie denn noch? Ich habe gelogen, ja! Ist das denn ein Verbrechen? Sind Sie sicher, daß Sie selber nicht auch lügen, zu jedem Mittel greifen würden, wenn Sie sich eingekreist, zu Tode gehetzt fühlten? Sie mögen ein guter Anwalt sein, aber Sie haben keinen Funken menschlichen Verständnisses, genausowenig wie der bösartige Staatsanwalt!«
»Nun erlauben Sie aber mal, Frau Groß …«
»Nein, nichts gar nichts erlaube ich! Ich habe nichts mehr zu verlieren, und deshalb darf und will ich so sprechen, wie es mir ums Herz ist! Sie haben mich bisher verteidigt, stimmt … aber warum haben Sie es getan? Weil es Ihr Beruf ist, weil ein Freispruch Ihr Ansehen hebt, weil Sie dafür bezahlt werden! Aber nicht eine Sekunde konnten Sie nachfühlen, wie mir zumute ist… was ein Mensch fühlt, der unschuldig auf der Anklagebank sitzt, dem ein gemeines Verbrechen, ein Giftmord, zur Last gelegt wird und der keine, aber auch keine Möglichkeit hat, seine Unschuld zu beweisen!«
»Wenn Sie sich wenigstens an die Wahrheit gehalten hätten!«
»Wenn, ja wenn! Wer glaubt mir denn die Wahrheit? Alles, was ich über meinen Besuch bei Annabelle Müller gesagt habe, ist die Wahrheit … und wollen Sie mir einreden, daß mir irgend jemand im Gerichtssaal, ein einziger Mensch … von den Richtern und Geschworenen … auch nur ein Wort geglaubt hat? Sie alle haben ebenso wie die ganze Öffentlichkeit ihr Urteil schon über mich gefällt, längst bevor es zu diesem Prozeß kam!« Carola Groß schwieg erschöpft. Ihre Schultern sanken vor, sie preßte, um ihre Beherrschung zurückzugewinnen, die Handflächen gegeneinander.
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