«Frühstück?» wiederholte Erling und schnüffelte vor sich hin. Dann drehte er sich zur Seite. «Ich habe keinen Hunger ...»
«Aber wir! Steh auf, du Murmeltier!»
«Laß mir meine wohlverdiente Nachtruhe!»
«Es ist hellichter Tag ...»
«Dann laß mir eben meine Tagruhe!»
«Wir werden dir!»
Jan sprang auf den Boden und zog mit einem Ruck Erling die Bettdecke weg. Inzwischen hatten sich auch die anderen Jungen den Schlaf aus den Augen gerieben. Erling setzte sich auf und gähnte herzzerreißend. «Jan Helmer, du bist ein Ungeheuer, ein widerliches, gemeines Ungeheuer. Deine Unmenschlichkeit hat schon immer große Triumphe gefeiert. Daß du uns um diese Tageszeit wecken kannst, das beweist, was für ein gräßliches Ungeheuer ... aber ... hm ... mir scheint, wir sind schon auf großer Fahrt.»
«Schon seit mindestens einer Stunde», lachte Jan und warf einen Blick durch das Bullauge. «Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch einen letzten Blick auf Afrika werfen wollen. Nun steht schon auf!»
Und dann ging alles ganz schnell. Barfuß rannten die Jungen über die Planken, sie planschten im Wasser und bürsteten die Zähne so energisch, daß die Zahnpasta in alle Richtungen spritzte. Eine halbe Stunde später waren sie alle um den Frühstückstisch versammelt. Peter Nielsen fehlte als einziger in der großen Kajüte, denn er hatte Wache. Mit riesigem Appetit sprachen sie Erlings und Jespers Kochkünsten zu. Als der Hunger gestillt war, kam die Rede auf Madeira, und Ingenieur Smith übernahm das Wort.
«Während eines furchtbaren Sturmes im Jahre 1419 verschlug es zwei Portugiesen auf eine kleine, unbewohnte Insel im Atlantik. Dankbar für ihre wunderbare Rettung nannten sie die Insel Porto Santo, was so viel wie heiliger Hafen bedeutet, und im darauffolgenden Jahr nahm Portugal nicht nur diese, sondern auch die umliegenden Inseln in Besitz. Die größte nannten sie Madeira und glaubten, daß sie ein Teil des sagenumwobenen Atlantis gewesen sei, das vor vielen tausend Jahren im Meer versunken sein soll ...»
Smith nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort: «In früherer Zeit war Madeira ganz mit Wäldern bedeckt, heute sieht man davon nur noch im Süden einige Reste. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs und vor allem im Norden noch sehr wild und unerschlossen. Das Klima ist außergewöhnlich mild, ausgeglichen und sehr gesund. Ich glaube, die Durchschnittstemperatur liegt bei etwa zwanzig Grad Celsius. Darum gibt es auf der Insel auch jährlich Tausende von Touristen und Kurgästen.»
«Und die Einwohner leben ausschließlich vom Tourismus?» wollte Jesper wissen.
«Nein, das nicht. Sie bauen auch Wein, Bananen, Ananas, Orangen, Zuckerrohr und echte Kastanien an. Der Madeirawein ist so weltberühmt geworden, daß andere Länder unzählige Nachahmungen herstellen. Die beste Weinsorte ist der Malvasier. Er braucht sechs Jahre, bis er die richtige Reife hat. Früher kam dieser vornehme Wein gar nicht in den Handel, sondern wurde direkt an den portugiesischen Hof geliefert.»
«Wie sind die Einwohner?»
«Die Inseln werden hauptsächlich von Portugiesen bewohnt, aber es gibt auch noch einige Neger und Mauren. Man kann wohl sagen, daß die Bevölkerung im großen und ganzen arm ist, aber sie ist auch genügsam und rechtschaffen. – Und dann müßt ihr noch wissen, daß der Name Madeira aus dem lateinischen Wort ‹materia› entstanden ist. Das bedeutet Holz, was ja ganz natürlich ist, nachdem die Insel früher mit Wäldern bedeckt war. Jetzt gibt es dort auch Palmen. Die hat es früher nicht gegeben, sie sind also wohl erst später eingeführt worden. Aber die Touristen schwärmen für den Anblick der im Wind schwankenden Palmen. Er vermittelt ihnen die Illusion, sie seien in einem fernen, exotischen Land.»
Die Jungen hatten dem Ingenieur interessiert zugehört. Funchal schien also nicht übermäßig interessant zu sein und kaum größere Abenteuer zu bieten haben. Nun ja, die konnte man ja auch in einer Stadt von fünfzig- bis sechzigtausend Einwohnern nicht erwarten ... jedenfalls nichts in Richtung Casablanca, keine finsteren Viertel, in denen Eingeborene Carl entführen oder gar andere Besatzungsmitglieder in finstere Häuser sperren konnten.
Gegen Abend des zweiten Tages näherte sich die ‹Flying Star› dem Hafen von Funchal. Die Jungen hingen neugierig über die Reling, um die Einfahrt nicht zu verpassen. Sie sahen die Kronen hoher Palmen aus dem Grün der Küste emporragen und inmitten dieser üppigen Vegetation die Stadt liegen wie eine weiße Insel. Zahlreiche Villen waren auf den Abhängen verstreut, aber das Gesamtbild dominierten die großen Hotels. Sie verrieten, daß man das Leben auf Madeira am besten als wohlhabender Tourist genießen kann. Alles deutete darauf hin, daß man einigen Tagen friedlicher Idylle entgegensehen durfte, ganz ohne erregende Spannung oder aufregende Begebenheiten. Und doch sollte Jan mehr erleben, als er sich wünschte. Wie die anderen bekam auch er Post von zu Hause. Die Briefe wurden ihnen an Bord gebracht, und mit eifrigen Fingern riß Jan den Umschlag auf. Er hatte kaum die Hälfte gelesen, da begannen ihm die Buchstaben vor den Augen zu tanzen, und es dauerte eine Weile, bis er ganz begriffen hatte, was ihm sein Vater schrieb. Auf den ersten Seiten war nur von erfreulichen Neuigkeiten die Rede, aber dann las er weiter:
‹Ja, mein lieber Junge, nun habe ich Dir alles Erfreuliche berichtet, und ich kann mich nur schwer dazu entschließen, Dir auch das Traurige zu schreiben. Mutter und ich sind der Meinung, daß es besser ist, wenn wir es Dir gleich mitteilen: Unser guter, treuer Boy ist nicht mehr. Nach Deiner Abreise hat er sehr getrauert und wollte kaum essen. Dann wurde er ernsthaft krank, aber der Tierarzt sagte, daß diese Krankheit nichts mit seiner Trauer und Appetitlosigkeit zu tun hatte. Er starb nach zwei Tagen, das hat ihm viele Schmerzen und langes Leiden erspart. Es ist sehr traurig, mein Junge, Dir dies berichten zu müssen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß Boy inzwischen schon ein recht alter Hund geworden war, jedenfalls wenn man sein Alter am besten Alter eines Polizeihundes mißt. Und vielleicht freut es Dich, zu hören, daß wir Boys Sohn weiterhin mit Sorgfalt ausbilden. Wir haben ihn auch Boy genannt, und er zeigt sehr gute Eigenschaften. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, so glaube ich doch, daß er seinem berühmten Vater in mancherlei Hinsicht sogar überlegen sein wird. Ja, nun habe ich also alles gesagt und hoffe, daß Du es ebenso ruhig und vernünftig aufnehmen wirst, wie wir anderen hier zu Hause es getan haben.
Und dann noch etwas. Falls Du während Deiner Reise je in gefährliche Situationen geraten solltest, schreib darüber in Deinen Briefen nicht zu viel. Du weißt ja, wie nervös und ängstlich Mutter ist. Eine kleine Brise wird bei ihr gleich zum ausgewachsenen Taifun – Du weißt schon, wie ich das meine. Liebe Grüße! Vater.›
Jan ließ den Brief auf seine Knie sinken und starrte vor sich hin ins Leere. Es fiel ihm schwer, die traurige Nachricht zu fassen. In all den Jahren hatte er gewiß viele gute und treue Freunde gehabt, aber der treueste war sicher Boy gewesen. Das kluge Tier war ihm so oft ein Helfer in der Not gewesen, und in friedlicheren Zeiten hatte es ihm zu Füßen gelegen, während er seine Hausaufgaben machte oder Briefe schrieb. Alles war ihm leichter gefallen, wenn er ab und zu in die klugen braunen Augen des Hundes schauen konnte. Zurückblickend sah er seinen Boy vor sich, wie er erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte, als wolle er fragen: «Können wir wohl jetzt einen kleinen Spaziergang machen?» oder «Kann ich dir bei irgend etwas helfen, Jan?» – Und jetzt gab es ihn nicht mehr. Boy war tot. Natürlich, alle Lebewesen auf dieser Erde mußten einmal sterben. Gewiß. Aber wie schwer war es, das zu fassen.
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