Flossy Maris betrat das Paradies zum ersten Mal. Sie ging mit bäuerlich wortlosem Staunen um alles herum. Aber die Bangigkeit ihrer Augen löste sich. O ja, es konnte ein Mensch hier leben! Sogar einen Quell hatte sich dieser Mensch aus dem Moorwasser herübergeleitet. Durch eine Furt aus hellem Heidesand sickerte er in ein Becken, das war wieder aus Sand gebildet und so klar wie frischgefallener Tau. — Sie sah auch die Beete, von denen Matheis die Heide gerodet und die er mit Braunkohl bepflanzt hatte, der nun schon seine dunklen Blätter in die Sonne kräuselte. „Wenn einer Gärtner ist!“ sagte Matheis mit stolzbewusstem Lächeln.
Dann aber — sie standen nun vor den Büchern, von denen etliche offen auf dem Tisch am Fenster lagen. Diese Bücher waren für Mutter Flossy fast so geheimnisvoll wie die Bilderkammer der Seele ihres Jungen. Dann aber reckte Matheis seine Arme und hiess Pieter Bosboom hinsitzen auf den Bettrand neben die Frau. „Es geht an jedem Tag mehr auf in mir, ihr Leute! Und es wächst, sag ich euch — denn es ist jungfräuliches Land in mir und da draussen! Was ich vor ein paar Wochen nicht wusste — ich will es euch heute sagen! Damals dacht’ ich: ein Maler — das ist ein Mensch, der ein Stück Welt in den Rahmen bringt, den er aus seinen zwei Zeigefingern und Daumen bildet und auf das er hinlugt. Gefällt es ihm, dann macht er ein Bild daraus — so getreu nach der Natur als er es vermag. Je getreuer, desto rühmlicher.“ Ja. So hatten sich Pieter Bosboom und Mutter Flossy die Sache etwa auch vorgestellt.
„So dumm!“ Matheis Maris sah mitleidig in sich hinein. „Jetzt aber hab ich das anders gefunden. Nämlich so: wenn der Maler prüfend durch den Rahmen seiner Finger guckt, so schaut er über ein Stück Welt bis hinein ins Herz Gottes. Ins Herz Gottes, sag ich. Dort steht das Bild, wie es gemeint ist von diesem Gott selber. Den Gedanken des Weltschöpfers darzutun vor den Augen der Menschen mit Pinsel und Farbe — das ist es, ihr Leute! Darum: die Kunst des Malers — hör’ zu, Pieter Bosboom, hör’ zu, Mensch! — dis Kunst des Malers, alle Kunst, wie sie immer heisse, die kommt aus dem Schauen ins Herz Gottes! Gottes Gedanken zu erkennen, neuzuschaffen, was er mit der Welt vorgehabt hat — das ist es!“
Heimwärts trottete das Eselein. „Es wächst in ihm, Mutter Flossy, es wächst!“ sagte Pieter Bosboom, ganz des Geistes voll, den er an Matheis Maris verspürt hatte. „Ich kann mir nun denken: solch einer wie er muss sich losmachen von all dem Kram, von dem unsere Tage voll sind, Mutter Flossy! Sonst fällt ihm der Staub auf die Augen. Und wie will ein Bauernjunge sehen ins Herz Gottes, wenn er staubige Augen hat?“
„Was er nur meint mit dem Herzen Gottes?“ forschte sich Mutter Flossy an den hellsinnigen Gärtner heran.
„Tja!“ machte Pieter Bosboom und zog die Schultern. Dann aber liess er eine Rede los — das Eselfuhrwerk rollte immer wieder mitten hindurch! — darin wurde gehandelt, dass das Herz Gottes solch ein Sinnbild sei ... das Letzte dabei denken könne sich von allen Menschen nur Matheis Maris ... Pieter Bosboom rieb sich die Nasenwurzel. „Kopfweh bekommt unsereiner davon, Mutter Flossy!“ Flossy Maris aber sagte: „Der Matheis wird sich das Hirn wohl doch noch zersinnen.“
Daran dachte Matheis Maris aber nicht. Überhaupt: das Sinnieren! Zuvor war es eine ungeheure Anstrengung gewesen. Nun war es eine Herrlichkeit. Nur das Lesen in den Büchern, das schuf seiner brüchigen Wissenschaft zuzeiten grosse Not. Es waren da Fremdwörter, deren Bedeutung nicht zu erraten war. Pieter Bosboom ward auch darin Helfer. Er brachte von einem Althändler in Haarlem ein Fremdwörterbuch mit. Das kostete drei Gulden und war eine schwere Rechnung. — Ach, kein Wort ist imstande, die Weite zu malen und die Finsternis, durch die der Mensch mit kümmerlicher Dorfschulweisheit zu wandern hat bis hin zur Sonne!
Nun war das so mit Matheis Maris: der Abend, in den er das Bild vom Herzen Gottes gestellt, war eine Weltscheide für ihn geworden. An diesem Abend warf er sich in den Kleidern aufs Bett und lag die Hälfte der Nacht mit heissen Augen. Die waren weit offen vor Glück. Und starrte über sich gegen das braune Röhricht des Daches und konnte den Morgen nicht erwarten und lief mit dem Malzeug hinaus, als der Saum der Erde rot wurde; denn er wollte gleich die Probe machen auf sein Exempel.
Aber zum Malen kam er nicht. Nicht an diesem Tag und nicht am nächsten. Er merkte, er hatte eine solche Fülle von Wissenschaft in sich hineingelesen, dass er da erst gründlich Ordnung schaffen musste. Aber über allem stand der Spruch vom Herzen Gottes. Und der war seine eigene Erfindung.
Seit diesem Morgen sah er die Welt anders. Es war, als habe sie im Dornröschenschlafe gelegen. Das Wort vom Blick ins Herz Gottes war die Zauberformel, vor der sie erwacht war. Nun war ihre Schönheit siebenmal so schön. Und ihr Leben, das zuvor leises Atmen und holdselige Bewusstlosigkeit gewesen, redete nun zu ihm von einem tiefen Wesen der Dinge, das er zuvor nicht geahnt hatte. Und nicht gesehen. Was gestern Stoff und Spröde gewesen war, vor denen er mühselig herummass und Farben wog, das hatte auf einmal Macht und Grösse.
So war sein Kampf mit der Natur ein anderer geworden. Sieger konnte er sein — nicht wenn er diese Welt der tausend Masse nachahmte in Fläche und Farbe; denn das hiess nichts weiter als: zu Tode malen, was nun lebendig geworden war vor ihm! — nein, Sieger konnte er sein, wenn er es machte wie Gott: er schuf und blies dem Geschaffenen einen lebendigen Odem ein. — Das war die andere Zauberformel.
Eine Woche rang er um diese Erkenntnis, ehe er fand, dass sie sich in die zwei Worte vom lebendigen Odem füllen liess! Er aber war um diese zwei Worte gelaufen, Tag und Nacht und Nacht und Tag, dass ihm die Pulse zu bersten drohten.
Dann hing er alle Bilder ab in seinem Hause. — Sie waren seine Freude gewesen. Flossy Maris hatte davorgestanden in herzfroher Demut; und Pieter Bosboom hatte von ihnen gesagt: „Wer das gemacht hat, der hat das Genie.“ Diese Tafeln wollte Matheis Maris über Jahr und Tag in seinem Rückensack zu dem grossen Meister Alma Tadema tragen. Nun gedachte er daraus einen Scheiterhaufen zu machen und den einfältigen Menschen Matheis Maris von ehedem darauf zu verbrennen. — Aber er besann sich. Er holte die Eier vom Neste und kochte sie darüber.
Einmal, da der Tag am heissesten war, stampften ein paar Holzschuh über das Torfmoor. Das Mädchen, das darin steckte, hatte einen blauen Linnenkittel an und die weisse Schleierhaube tief ins Gesicht gezogen. Sie kam nicht den braunen Steig daher, sondern lief sich durch das Heidegestrüpp die Lungen heiss, guckte bei der Tür hinein ins Haus und suchte ringsum. Da schob sich der Kopf des Matheis Maris über den Rand einer Torfkuhle empor.
„Na, Nele Greefs?“
„Fürchtest du dich vor mir, Matheis Maris, weil du dich in der Kuhle verkriechst?“
Da sah er, dass die blanke blonde Nele Greefs eine feine Staffage wäre. Er setzte sie an den gegenüberliegenden Rand der dunkelbraunen Moorkuhle. Setzte sie hin und tupfte den blauen Rock in sein Bild und die gelben Holzschuh, und tupfte den weissen Schleierhut gegen den Himmel ... In zwei Minuten war das gemacht. Nele Greefs aber lief herzu und sagte: „Wenn ich so aussehe, dann wundert’s mich nicht, dass du mich nicht leiden magst, Matheis Maris.“ Er betrachtete sie. „Du siehst einen ja an, als nähmest du Mass zu meinem Sarge.“
„Ich will dich malen, Nele Greefs. Wenn du ein paar Mittage zu mir herauskommen willst ...“
„Und wenn du dir nicht einbildest, dass ich dir nachlaufe ...“
Sie standen nun beide vor der Staffelei. Nele Greefs sah, wie er die Farben breit und wuchtig hingestrichen. Es war ein schönes Bild und voller Leben. Ein Streif Moorheide war da unter einen sehr stillen Himmel gelegt. Es war zu sehen, wie sich die Kraft der Erdeinsamkeit reckte gegen den Himmel.
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