»Scheiße, ich muss zur Bahn«, sagte Volker plötzlich und hatte es eilig. »Ich mach mich auch auf, Georg«, sagte Roland, »ich hab gleich noch ’ne Tennisstunde.«
Georg trank den Rest Kaffee aus und stellte die Tasse vorsichtig auf das Tablett am Tresenrand. Mit einem undeutlichen »Auf Wiedersehn« verließ er das Geschäft. Es ärgerte ihn, dass für die siebte und achte Stunde noch eine Probe des Schulorchesters angesetzt war. Sie übten für die Feier zum Schuljahresabschluss mit Zeugnisübergabe, die in zwei Wochen anstand. Er hatte seiner Mutter gesagt, dass er nicht vor halb vier zu Hause sein würde, aber er hatte wenig Lust auf die Probe. Der Corelli klang eh schief und das Stück von Biber war langweilig, auch wenn es den Geigen einiges abverlangte. Ein Sextaner würde auf dem Klavier Schumanns Kinderszenen spielen, Andreas Wingert, der bei der gestrigen Probe gezeigt hatte, dass er wirklich talentiert war. Zum Glück hatte Georg noch fast eine halbe Stunde bis zum Probenbeginn um halb zwei. Er nahm darum nicht den direkten Weg zum Gymnasium, sondern entschied sich für den Gang Richtung Nordbahnhof, um dann den Fußweg an der Lippe entlang zu nehmen.
Der Gedanke an einen Besuch im Atelier von Manfred Schümann kam sofort zurück. Er konnte aber doch nicht einfach bei ihm klingeln und sagen, ich bin Georg Mertens, ich möchte gern ihre Bilder ansehen und wollte fragen, ob Ihre Frau auch da ist. Es hieß, Manfred Schümann male nicht immer jugendfrei und auch nicht nur abstrakt. Ob Camille für ihn Modell sitzt? Wenn sie in Modezeitschriften zu sehen war, präsentierte sie meist die jüngste Kollektion des Langenheimer Strumpfherstellers, immer waren ihre langen schlanken Beine im Vordergrund, immer aufregend. Doch der Besuch im Atelier müsste über Vater vermittelt werden, über wen sonst? Warum hatten sie sich in der letzten Zeit nur so zerstritten? Warum reagierte Vater immer so aufbrausend und abwehrend zugleich, sobald das Gespräch auf die Nazizeit kam? Gut, Georg klagte immer gleich an. Aber wie sollte man anders über diese Jahre sprechen. Neutral? Verständnisvoll? Mitfühlend gar? Nein!
Georg hörte das Pfeifen eines Zuges und sah, wie am Ende der Straße in Höhe des Nordbahnhofs die Schranken heruntergelassen wurden. Er blieb stehen. Eine blaue Diesellok schob sich von rechts ins Bild, ein Güterzug passierte den Übergang. Es war ein Güterzug mit Viehwaggons, mit diesen altmodischen gedeckten Wagen aus braun gestrichenem Holz mit großer Schiebetür und kleinem Fensterchen an einer Seite. Vor seinem inneren Auge tauchte auf, wie sie darin schrien, wie sie an die verriegelte Waggontür hämmerten, wie sie hinter dem Fensterchen nach Luft rangen, wie der Gestank der Fäkalien im überfüllten Waggon sie fast ohnmächtig werden ließ. Und eine Hand, die gegen die Tür hämmerte, war braun, schokoladenbraun und schlank, mit einem glitzernden Ring am Mittelfinger, und der Zug fuhr weiter, von Langenheim nach Beckum, nach Münster, nach Buchenwald, nach Maidanek, nach Auschwitz, mit Lili Tofler und den Zeuginnen und Zeugen darin. Er würde an der Rampe halten mit 20 oder 25 Waggons und in jedem Waggon waren 50 Leute und der Zug würde pfeifen, wie dieser jetzt in Langenheim pfiff, und über tausend Menschen gingen an der Rampe entlang, würden sortiert und die meisten würden gleich weiter zu den Schornsteinen geführt. Und da waren Boger und der Gesang von der Schaukel und der Unterscharführer Stark und der Tod. Georg schüttelte den Kopf, er wollte diese Bilder aus seinen Gedanken herausschütteln, diese Szenen, die ihn seit der Lektüre des Buches verfolgten, wann immer eine Lok pfiff, irgendwo ein alter Güterwagen stand oder er wie heute einen Güterzug vorbeifahren sah. Er blieb noch eine Weile stehen, auch als der letzte Waggon den Übergang passiert hatte und die Schranken sich langsam wieder hoben. Wie hatte das geschehen können? Niemand hatte die Züge gestoppt, mit denen Hunderttausende in den Tod transportiert wurden. In Waggons wie diesen da, die er gerade gesehen hatte, gezogen von Lokomotiven, die heute noch fuhren, von Menschen bedient, die heute noch Lokomotiven bedienen, Züge bewegen.
Georg bog nach links auf einen Fußweg ein und setzte sich auf eine der Bänke, die hier den Flusslauf der Lippe säumten. Noch einmal hörte er aus der Ferne den langgezogenen Pfiff des Güterzuges. Dann war es ganz still. Georg streckte die Beine von sich und sah auf das Wasser, auf dem eine Ente mit ihren Jungen ganz ruhig dahin schwamm.
Vor drei Wochen hatte er »Die Ermittlung« gelesen. In der Klasse hatten sie als Gegenwartsroman Heinrich Bölls »Der Zug war pünktlich« besprochen und Dr. Schubert, ihr Deutschlehrer, hatte eher nebenbei ein oder zweimal Peter Weiss’ Drama erwähnt. Als Georg im Regal der Buchhandlung Bärlinghausen das Taschenbuch entdeckte, sah er auf dem Einband, dass der Autor seinem Drama den Untertitel »Oratorium in 11 Gesängen« gegeben hatte und es war eigentlich diese Besonderheit, die ihn zum Kauf des Buches verführt hatte. Warum »Oratorium«? Schon nach wenigen Seiten merkte er, dass dieses Drama sich ganz anders mit dem Dritten Reich auseinandersetzte als die Romane von Heinrich Böll oder Günter Grass’ »Katz und Maus«, das er zuvor gelesen hatte. Er legte »Die Ermittlung« nicht mehr aus der Hand. Nie zuvor hatte er solch einen Einblick in die Nazizeit bekommen. Und es waren Prozessakten, nichts war erfunden. Es war alles schrecklich wahr. So war es gewesen. Zu so etwas sind Menschen fähig. Auch Dr. Schubert hatte ihm nicht erklären können, warum Weiss das Drama ein »Oratorium« genannt hatte.
»Ich will damit nichts mehr zu tun haben, nichts mehr. Ich will kein Deutscher mehr sein, verstehst du, kein Deutscher mehr. Ich gehe in die Schweiz, die waren wenigstens neutral.« Georg stand vor seinem Vater, der kurz vor Beginn der Tagesschau in seinem Sessel Platz genommen hatte und mit der rechten Hand gerade die Zigarrenkiste öffnen wollte.
»Georg, du spinnst ja total!« Vater zeigte ihm einen Vogel.
»Nein, ich spinne überhaupt nicht. Sobald ich das Abi habe, hau ich aus Deutschland ab. Du wirst sehen, ich gehe wirklich in die Schweiz, in die französische Schweiz, und ich werde meinen Namen ändern, nichts Deutsches mehr, Mertens, jeder weiß, das ist Deutschland. Ich hasse dieses Deutschland!« Georg sprach schnell, seine Stimme überschlug sich fast. »Nach dem, was ihr getan habt, kann man doch nicht mehr Deutscher sein!«
Sein Vater nahm die Brille ab und schaute ihn mit großen Augen an. »Das ist doch alles Unsinn!«
»Nein, das ist kein Unsinn, ganz und gar kein Unsinn. Ich weiß, Vater, du schämst dich nicht, Deutscher zu sein, im Gegenteil: ›Steht ein Soldat am Wolgastrand? Ta, tata ta, tata ta ta ta!‹ und ich frage mich oft, ob du wirklich keinen Grund hast, dich zu schämen? Aber du ertränkst ja die ganze Vergangenheit in deinen Operettenarien.« Georg sprach immer schneller. Sein Herz klopfte. »Doch, ich, ich wandere aus, sobald ich mit der Schule fertig bin, geh ich weg aus diesem Land. Und wenn du das nicht willst, dann warte ich eben, bis ich einundzwanzig und volljährig bin. Ich will nicht mehr deutsch sprechen, kein Wort mehr, kein einziges.«
»Das ist doch absolut lächerlich! Seit du dieses komische Buch gelesen hast, wirst du zum Psychopathen!« Vater setzte die Brille wieder auf.
»Psychokranke, das wart doch ihr! Ihr, die ihr diesem Idioten nachgelaufen seid, die ihr Millionen von Juden einfach vergast habt, nur weil Adolf Hitler es euch befahl. Hier kannst du lesen, wie sie es getan haben, wie Ärzte ihre Versuche an lebenden Mädchen vollzogen haben. Ich les es dir vor.« Georg hielt »Die Ermittlung« aufgeschlagen in seiner Hand. Er zitterte, sein Herz schlug schnell, er spürte, wie das Blut vor seinem Kehlkopf pulsierte, und konnte nicht verhindern, dass vor lauter Heftigkeit Tränen in seine Augen stiegen und er gar nicht lesen konnte. Vater stoppte ihn.
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