Michael Göring - Vor der Wand

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Eine Jugend in den 1960er und 70er Jahren in einer typischen Mittelstandsfamilie, dem Rückgrat der Bundesrepublik, dem Hort der Tabus. In der Vätergeneration glimmt noch die Operetten-Idylle, bei den Jugendlichen geht es um laute Rockmusik, lange Haare, sexuelles Erwachen und viele linke Thesen. Georgs Vater gehört zur sprachlosen Generation, doch Georg bohrt und gibt keine Ruhe. Erst als sein Vater nichts mehr zu verlieren hat, öffnet er sich seinem längst erwachsenen Sohn. AUTORENPORTRÄT Michael Göring, Jahrgang 1956, ist in Westfalen aufgewachsen. Seit seinem Literaturstudium sammelt er Geschichten, hält Berichte und Szenen in Tagebüchern fest. 2011 erschien sein erster Roman Der Seiltänzer. Der Autor leitet die gemeinnützige ZEITStiftung und unterrichtet im Fach Kultur und Medienmanagement an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg.

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Michael Göring

Vor der Wand

Roman

Saga

Die handelnden Personen in »Vor der Wand« sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Auch die Handlung des Romans ist mit Ausnahme der historischen Ereignisse erfunden.

Samstag, 10. Oktober 1987

St. Nikolai

Mutter sang wieder einmal falsch. Ob sie das wirklich nicht hörte? Tante Elfi dagegen sang akkurat, jedoch eine Spur zu laut. Georg stand rechts von seiner Mutter, links von ihr beruhigte Bärbel die kleine Tabea, die auf der Kirchenbank saß und ihre Puppe kämmte. Daneben standen Lukas und Thomas. Bärbel war schwanger, im fünften oder sechsten Monat, und man konnte es schon sehen. Das dritte Kind! Dabei war Lukas gerade einmal in der ersten Klasse. Drei Kinder in nur sieben Jahren: nicht zum Aushalten.

»… bis an mein Lebensende

und ewiglich,

ich mag allein nicht gehen,

nicht einen Schritt …«

Die Nikolaikirche war gut besucht, das Mittelschiff nahezu ganz besetzt. Fünfjähriges Seelenamt für Walter Mertens, seinen Vater, an einem Samstagnachmittag um 15 Uhr. Die frühe Nachmittagsmesse war offenbar ganz praktisch für die katholischen Langenheimer. So sicherten sie sich neben dem kirchenfreien Sonntag auch noch einen freien Samstagabend. Georg hatte beim Hineingehen nicht nur die Nachbarn, frühere Kollegen von Vater und Mitglieder des Männergesangvereins in den Bänken entdeckt. Auch viele, die er gar nicht kannte, hatten Mutter, Bärbel und ihm zugenickt. Nun ja, Vater war in der Stadt recht beliebt gewesen, keiner wusste von seinem Geheimnis. Keiner.

Der Organist nahm die Melodie noch einmal auf und spielte ein paar abschließende Akkorde. Die Gemeinde setzte sich. Tabea kletterte mit lautem Glucksen auf Bärbels Schoß. Thomas warf seiner Frau einen besorgten Blick zu, doch die schüttelte nur leicht den Kopf und schob Tabea in Richtung Oberschenkel. Die weise Mutter schont die Frucht, dachte Georg. Thomas war eigentlich ganz in Ordnung, zumindest gab er niemals damit an, schon zweifacher und jetzt bald dreifacher Vater zu sein. Nicht so, wie einige seiner Kollegen am Schiller-Gymnasium, die ihre begeisterte Vaterschaft jedem aufdrängten, der nur ein paar Worte mit ihnen wechselte. »Ach, Sie haben noch kein Kind?« Und dann der Blick voller Mitleid. Unerträglich!

Der Priester, ein junger Vikar im weißen Messgewand mit violetter Stola, sprach leise seinen Text. Georgs Blick wanderte auf das Tafelbild in der Mitte des alten Hochaltars, der an der Wand des Chorraums stand. Er wusste, was er sehen würde, eine Kreuzigungsszene, stark nachgedunkelt, deren Details heute jedoch besonders schwer zu erkennen waren, weil das Herbstlicht an diesem klaren Oktobernachmittag durch die hellen Kirchenfenster in den Altarraum fiel und ihn blendete. Umstrahlt von diesem Licht stand der weiße Vikar zentral in der Mitte des Raumes hinter dem schlichten Altartisch und faltete nun die Hände zum Gebet.

Vor fünf Jahren war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Mutter ganz in schwarz. Norbert Updenschroth war auch damals schon dabei, saß aber noch weit hinten, nicht wie heute in der zweiten Reihe ganz dicht hinter Mutter. »Vater hätte bestimmt nichts gegen Norbert, er würde sich freuen, dass ich nicht mehr alleine bin.« Diesen Satz hatte er vor gut drei Jahren zum ersten Mal gehört, seitdem immer wieder. Im Frühjahr 1984 hatte sich Mutter mit Norbert zusammengetan, schon ein halbes Jahr danach war er zu ihr in die Görresstraße gezogen. Georg fand, dass sich das Elternhaus seither extrem verändert hatte, und kam deswegen noch seltener als zuvor nach Langenheim. Ein Jahr später, im Herbst 1985, war es dann mit Marie auseinandergegangen. »Wir haben zu lange gezögert«, hatte sie gesagt, »irgendetwas hat sich zwischen uns gestellt, irgendein Eisblock, eine Wand.«

Vor fünf Jahren hatte Marie rechts neben ihm gesessen, da wo jetzt Tante Elfi saß. Neben Marie hatte Großmutter Platz genommen und fast den ganzen Trauergottesdienst über geweint. Marie trug den neuen schwarzen Blazer, den sie kurz zuvor für ihren Start beim Gericht gekauft hatte und der ihr sehr gut stand. Sie sang die Trauerlieder mit ihrer schönen Altstimme, traf melodiesicher jeden Ton, jede Nuance. Dann hatte sie plötzlich geweint. Geweint wegen Walters Tod, dem Tod ihres Schwiegervaters, nein, nicht einmal das, dem Tod des Vaters ihres Freundes. Georg hatte vor fünf Jahren nicht weinen können. Keine zwei Wochen zuvor erst hatte er Vaters Geheimnis erfahren und war wie betäubt gewesen. Wenn sich Vaters Zustand damals nach der ersten Chemo nicht so brutal schnell verschlechtert hätte, wären wohl noch ein oder zwei Gespräche möglich gewesen. Aber all das Morphium, das Vater wegen der Metastasen in der Wirbelsäule bekam, hatte es nicht mehr erlaubt. Vater hatte nach seinem Bericht sicherlich Verständnis erwartet, vielleicht Absolution erhofft. Aber das ging nicht, es war einfach nicht möglich. Bei der Trauerfeier vor fünf Jahren hatte Georg diesen Graben zwischen sich und Vater gespürt. Der lag damals unmittelbar vor dem hölzernen Altartisch im Sarg wie ein Opfer, das man dort aufgebahrt hatte. Trauer hatte Georg nicht empfunden. Eigentlich hatte er gar nichts empfunden, außer dass er sich neben Marie ganz wohlfühlte. Dass sie ihm ein paar Tage zuvor von ihren eigenen Problemen erzählt hatte, hatte er da schon wieder verdrängt.

»Herr, ich bin nicht würdig,

dass Du eingehst unter meinem Dach,

aber sprich nur ein Wort,

so wird meine Seele gesund.«

Tante Elfie und Mutter knieten, er kniete nicht. Mutter gab ihm einen Schubs mit ihrem rechten Ellenbogen, aber er blieb stehen. Auch Schwager Thomas stand, immerhin, wer hätte das gedacht. Ob Bärbel ihrem Mann später Vorhaltungen machen würde? Norbert Updenschroth hinter ihm kniete natürlich, stöhnte laut dabei und schob seine gefalteten Hände wie eine Speerspitze gegen Georgs Rücken.

Wenn Marie doch auch jetzt wieder neben ihm stehen würde! Wie damals vor fünf Jahren. Links von Mutter hatte Bärbel mit Thomas und dem kleinen Lukas gesessen, rechts er mit Marie, daneben Großmutter. Perfekt! Zwei Paare, die Mutter in ihrer Trauer flankierten. Wahrscheinlich sagten die Leute, die heute zum Seelenamt gekommen waren, hinterher: »Der Sohn von Frau Mertens war ganz allein da. Er ist immer noch unverheiratet. Dabei hatte er doch damals so eine hübsche Freundin.« Marie hatte in den Monaten nach Vaters Tod immer mal wieder beiläufig von Heirat gesprochen. Er hätte nichts dagegen gehabt, aber es eilte ja nicht. Heute vermisste er Marie, durfte gar nicht länger an sie denken. Der Priester wiederholte zu Georgs Überraschung an dieser Stelle die Worte des Kyrie.

»Herr erbarme Dich,

Christus erbarme Dich,

Herr erbarme Dich.«

Georg murmelte mit, achtete kaum auf die Worte, aber beim dritten »Erbarmen« zuckte er. Miserere mei, das war einmal sein großer Erfolg gewesen, damals in Regensburg, und es war auch sein Ende, sein unrühmliches Ende. Erbarmen! Der Prof hatte ihn getröstet, damals nach dem Konzert in Straßburg. Hatte er Vater jemals getröstet?

Der Priester schaute nach dem letzten »Erbarme Dich« einige Sekunden lang zur Decke und dann auf seine Gemeinde, als wolle er das Erbarmen aus dem Kirchengewölbe hervorlocken und über seine Schäfchen breiten. Jetzt schien es Georg, als würde er sogar direkt auf seine Mutter und auf ihn blicken. Georg fand das unangenehm und schaute zur Seite.

»Selig, die zum Tisch des Herrn geladen sind.«

Mutter stand auf, ging mit Bärbel und Thomas die paar Schritte zum Altar, gefolgt von Tante Elfi. Er blieb sitzen. Er fühlte sich nicht eingeladen. Auch Onkel Hartmut blieb sitzen. Wieder fiel ihm auf, wie jung dieser Priester war, keinesfalls älter als er selbst, wahrscheinlich noch keine dreißig. Was wusste der schon von Erbarmen und Erlösung? Er hätte mal Vaters Bericht lesen sollen, dann hätte er eine Ahnung, was Schuld und Erlösung bedeuten.

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