Dort war schon munteres Treiben. Es wimmelte nur so von Autos, Traktoren, Fahrrädern und Lieferwagen, und überall standen Menschen in kleinen Grüppchen beisammen. Einige wollten ihre Sommergäste oder Waren abholen, andere waren nur gekommen, um zu schauen. Soviel passierte ja sonst nicht auf der Insel, deshalb nahm man gern jede Abwechslung wahr, und die Ankunft einer Fähre war immer wieder ein Ereignis. Jedenfalls im Sommer. Und am Samstag erst recht.
Anders stellte sein Fahrrad ab, und gemeinsam gingen sie zum Anleger. Unterwegs kamen sie am alten Alfred vorbei, der auf seiner Bank saß und das Treiben um sich herum beobachtete.
„Hallo, Alfred!“ rief Louis, während Anders und Manette sich damit begnügten, ihm zuzunicken.
„ Ja, guten Tag auch.“Alfred grinste. „Da haben wir ja schon fast die gesamte Französische Revolution!“
Manette sah Anders an und verdrehte die Augen. „Er wird auch immer wunderlicher, oder?“ flüsterte sie und schielte über die Schulter zu Alfred hinüber.
Anders lachte. „Nee, das sind eure Namen, die wunderlich sind. Louis und Marie-Antoinette. Das ist doch auch komisch. Aber ansonsten hast du recht. Er wird wirklich immer wunderlicher. Hast du gesehen, was er da draußen am Aussichtsturm fabriziert hat? Das ist wirklich die Höhe! Er hat einen reichlichen Triller.“
Das Fährschiff näherte sich dem Anleger, und jetzt sah es zweifellos groß aus. Kolossal. Es wuchs über ihnen in die Höhe, während es an den Anleger heranglitt.
„Bin ja neugierig, ob Stina und Bengt drauf sind“, sagte Manette und spähte eifrig zur Schiffsklappe, die langsam aufglitt.
„Sieht aus wie ein Nilpferd, das gähnt“, sagte Louis.
Das erste Auto, das herausfuhr, war ein alter, rostiger Trabant, der aussah, als würde er nur noch von den Seilen und Drähten zusammengehalten, mit denen das Gepäck auf dem Dach befestigt war. Der Fahrer versuchte vergebens, ihn in Gang zu bekommen, während seine Frau und ein paar hilfsbereite Männer das Auto an Land schoben.
Anders schüttelte den Kopf. „Ach du meine Fresse, guckt euch mal den Trabi an! Was ist das denn für ein Schrotthaufen! Und dann noch aus Polen. Daß der überhaupt so weit gekommen ist.“
„Die haben ihn bestimmt den ganzen Weg geschoben“, lästerte Manette, aber dann erregte eine vierköpfige Familie ihre Aufmerksamkeit, die offenbar Fahrradferien machte.
Manette starrte sie mit offenem Mund an. Die beiden Kinder trugen sowohl Schwimmwesten als auch Fahrradhelme.
„Na, da würde ich mich ja bedanken“, rief sie und stieß Anders kichernd an. „Was ist denn das für eine witzige Familie!“
„Die sind sicher mit dem Wasserrad gekommen“, grinste Anders.
„Das sind Norwegische“, behauptete Louis.
„Das heißt Norweger“, korrigierte Manette ihn. „Woher weißt du das überhaupt?“
„Von den Flaggen“, sagte Louis. „Und ich meinte die Räder, und dann heißt es nämlich norwegische.“
„Ja, ja, ganz sicher.“ „Ob die auch auf den Campingplatz wollen?“ überlegte Louis.
„Um Gottes willen!“ stieß Manette aus. „Dann doch lieber der da.“
Sie zeigte auf einen schicken großen Volvo, der einen imposanten Wohnwagen mit Rennrädern und Surfbrettern auf dem Dach hinter sich herzog. „Da ist auch ein Junge drin, aber mit dem kannst du bestimmt nicht reden. Der ist nämlich finnisch.“
„Finnisch! Du hast ja wohl ‘n Elch im Stall!“ protestierte Louis. „Der ist doch schwedisch. Da steht ein S, und das bedeutet Schweden.“
„Nein, da steht SF“, widersprach Anders. „Und das ist Finnland.“
„Bist du nicht ganz dicht?“ Louis schüttelte den Kopf. „Finnland mit S. Du bist wirklich dumm, Anders. SF bedeutet Sch-feden.“
„Nein, du Hohlkopf! Suomi-Finnland.“
„Suomi hat doch nicht das geringste mit Finnland zu tun. Das sind Japaner. Das hab’ ich schon mal auf Video gesehen. Irgendsolche japanischen Krieger. Ha!“ endete er mit einem Karateschrei, der Manette zusammenschrecken ließ.
„Du Blödmann“, rief sie verärgert. „Das heißt nicht Suomi, sondern Samu ...“ sie unterbrach sich selbst. „Da kommen sie! Da sind sie. Da sind Stina und Bengt!“ Sie winkte wild und hüpfte begeistert auf der Stelle. „Stina! Stina!“ jubelte sie, aber das Wohnmobil rollte an ihnen vorbei, ohne daß Stina sie bemerkt hatte.
Louis stürzte ihnen nach. Bengt und Stina kamen nicht weit, ehe sie hinter dem Trabant halten mußten, der immer noch nicht ansprang.
Bengt wollte gerade an ihm vorbeimanövrieren, als Stina Louis entdeckte, der vor dem Autofenster stand und die fürchterlichsten Grimassen schnitt. „Hallo, warte mal, Bengt! Da ist Louis“, rief sie und kurbelte ihr Fenster hinunter. „Hei Louis, bist du allein?“
Louis schüttelte den Kopf. „Nein, Manette und Anders stehen gleich da hinten.“ Er sprang auf und steckte den Kopf ins Auto. „Hallo Bengt.“
„Hallo, Monkey-face! Bist du immer noch auf freiem Fuß?“ „Ja. Und dich haben sie rausgelassen, wie ich sehe.“
Bengt schüttelte grinsend den Kopf. „Immer noch so frech und schlagfertig wie immer.“ Er wandte sich Stina zu. „Spring nur raus, wenn du mit deinen Freunden gehen willst. Wir treffen uns auf dem Campingplatz, wenn ich jemals an diesem Wrack vorbeikomme.“
Stina sprang aus dem Wagen und fast direkt in die Arme von Manette und Anders, die inzwischen herangekommen waren. Die Mädchen warfen einander vor lauter Wiedersehensfreude fast um und alberten mit hundert Stundenkilometern los, so daß Anders und Louis sich reichlich überflüssig fühlten.
„Hört mal, sollen wir hier den ganzen Tag rumstehen?“ fragte Anders schließlich.
„O Mann, Anders! Ich habe dir ja noch gar nicht guten Tag gesagt. Guten Tag, guten Tag, guten Tag!“ lachte Stina.
Sie gingen in Richtung Ort, als Stina plötzlich mit einem Ruck stehenblieb und zu drei jungen Männern hinnickte, die ein Stück entfernt standen.
„Wow, wow, wow! Guckt nur, was für Supertypen! Was meinst du, Manette? Wir werden die Spitzenferien haben.“ „Ha!“ lachte Anders höhnisch. „Das könnt ihr gleich vergessen. Das sind ein paar der Griechen vom Wrackfischer.“ „Wer zum Teufel ist denn der Wrackfischer, und wieso sind das seine Griechen?“ fragte Stina.
„Vom Wrackfischer wirst du noch hören. Das ist ein Typ, der nach Wracks sucht und sie dann herausholt, wenn er kann. Oder er holt das raus, was etwas wert ist.“
„Na gut, aber warum sind das seine Griechen?“ fragte Manette.
„Weil sie für ihn arbeiten. Draußen auf dem Schatzsucherschiff. Das sind Taucher. Und die kommen nie hier auf die Insel. Wenn sie Landgang haben, nehmen sie immer die Fähre aufs Festland, und da lassen sie dann den Bär los.“
Stina grinste. „Was sollten sie hier auch machen? Aber jetzt sind ja Manette und ich gekommen, also wait and see. Die werden schon versuchen, mit uns ins Gespräch zu kommen, wart’s nur ab.“
„Die werden Schlange stehen, um mit uns reden zu können“, bestätigte Manette.
Anders schüttelte halb verärgert, halb triumphierend den Kopf. „Die werden euch was husten! Das könnt ihr euch gleich aus dem Kopf schlagen. Der Wrackfischer paßt auf sie auf, als wenn es seine eigenen Söhne wären.“
„Ach, komm“, erwiderte Stina. „So schlimm sind wir ja nun auch nicht.“
Langsam gingen sie zur Stadt. Keiner von ihnen bemerkte den alten Alfred, der auf seiner Bank gesessen und immer wieder nickend ihr Gespräch verfolgt hatte.
„Ja, ja, ihr Mädchen“, murmelte er. „Ja, ja, diese Mädchen. Es gibt vieles, was ihr nicht wißt. Der alte Alfred könnte euch das eine und andere erzählen, aber der alte Alfred kann seinen Mund halten.“
Auf halber Strecke bis zum Campingplatz fuhr Bengt an die Seite und stellte den Motor aus. Er hielt vor dem weißen Haus, in dem der neue Inselarzt wohnte. Es war eine große, alte Villa, die vornehm zurückgezogen in einem etwas verwahrlosten Garten lag. Bengt stieg aus dem Wagen, ging den Gartenweg hinauf, auf die Steintreppe und klingelte. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann wurde die Tür vom Arzt selbst geöffnet, der überrascht lächelte, als er Bengt sah.
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