„Ich wollte nur hören, ob er immer noch an einem der Welpen interessiert ist.“
Anders schüttelte den Kopf. „Er schon, aber Mutter nicht. Deshalb wird da nichts draus.“
„Hm“, der Inselvogt rieb sich das Kinn. „Du hast nicht zufällig den alten Alfred heute schon gesehen?“
Anders nickte. „Doch, heute morgen. Und als die Mittagsfähre gekommen ist, war er bestimmt auch im Hafen, das ist er ja immer. Aber ich bin erst etwas später gekommen, deshalb habe ich ihn nicht gesehen. Jetzt ist er wohl draußen am Turm. Da ist er immer um diese Uhrzeit. Er ist ja nicht ganz richtig im Kopf.“
„Na, na, Anders. Wir werden ja alle mal alt.“
„Ja, anzunehmen.“
„Und dann werden wir vielleicht auch etwas wunderlich.“ „Damit meinst du wohl dich“, murmelte Anders, während er sich über die Kiste beugte.
„Was hast du gesagt?“
„Ich habe gesagt, das kann schon sein.“
„Genau, und dann können wir nur hoffen, daß die Jüngeren uns mit Nachsicht behandeln“, fuhr der Inselvogt belehrend fort, aber seine Worte wurden von dem Lärm verschluckt, den ein kleines Flugzeug verursachte, das plötzlich direkt über ihnen auftauchte. Der Inselvogt und Anders traten automatisch zur Seite, und einen Augenblick später landete mit einem dumpfen Knall neben ihnen auf dem Fußweg ein Bündel Zeitungen.
Manette und Louis kamen in halsbrecherischer Fahrt ins Dorf geschlingert.
„Lenken, Louis, lenken!“ schrie Manette, als sie fast ein Auto streiften. Der Fahrer streckte einen Arm aus dem offenen Seitenfenster und winkte ihnen zu. „O Mann, das war der Inselvogt!“ rief sie.
„Dann spring schnell ab“, sagte Louis. „Sonst kriegen wir noch eine Strafe, weil wir zu zweit auf dem Fahrrad sind.“
„Das ist ihm total egal. Guck dir nur das Wrack an, mit dem er selbst rumfährt. Wir sind doch nicht in der Stadt, du Dummkopf!“
„Nein, aber er ist doch auch so eine Art Polizist, oder?“ überlegte Louis und drehte sich dabei zu Manette um.
„Louis, du Blödmann. Paß auf! Lenken! Nein, paß auf! Halt! Halt! Haaaaalt!“
Aber Manettes Warnung kam zu spät. Das Fahrrad raste durch eine niedrige Hecke direkt in einen Garten vor einem kleinen, verfallenen Haus und landete schließlich in ein paar traurigen Johannisbeersträuchern.
„Was bist du nur für ein Schafskopf“, rief Manette, während sie versuchte, in den Büschen wieder auf die Beine zu kommen. „Ich habe doch gesagt, du sollst aufpassen.“
„Ach, wenn schon“, grinste Louis. „Das sind doch nur die Johannisbeerbüsche vom blöden Alfred.“
„Du selbst bist blöd. Wir hätten uns den Hals brechen können.“
Sie hatten sich immer noch nicht aus den Büschen befreit, als Anders auf seinem Transportrad vorbeikam.
„Hallo! Ist es nicht noch ’n bißchen früh, um Johannisbeeren zu pflücken?“ rief er grinsend, hielt an und stellte einen Fuß auf den Boden.
„Halt bloß die Klappe! Das war Louis, der Trottel.“
„Kommt Stina heute?“ fragte Anders.
„Sie hat es jedenfalls geschrieben. Wenn sie die Fähre kriegen. Und das hoffe ich wirklich, sonst sterbe ich noch vor Langeweile.“
„Ich hoffe jedenfalls, daß auch noch andere Kinder kommen. Welche in meinem Alter. Sonst sterbe ich vor Langeweile“, sagte Louis voller Inbrunst.
„Ach, und ich dachte, daß du ganz wild auf Stina bist“, ärgerte Anders ihn.
„Quatsch“, Louis wand sich ein wenig. „Sie ist zwar echt witzig, aber sie ist doch ein bißchen alt – und außerdem ist sie ein Mädchen.“
Anders und Manette zwinkerten sich über Louis’ Kopf hinweg zu. Mit den Jahren würde auch er anders darüber denken. Dann fuhr Anders wieder los. „Wir sehen uns an der Fähre, ja?“
„Na logo. Wir sind da, wenn sie kommt. Falls sie kommt. Wir müssen nur erst noch nach Hause, was essen.“
„Dann müßt ihr aber einen anderen Gang einlegen. Es sind nur noch zwanzig Minuten, bis die Fähre kommt.“
„Zwanzig Minuten!“ schrie Manette und sprang auf den Gepäckträger des Fahrrads, das Louis inzwischen aus den Büschen hatte befreien können.
„Landegestell einfahren, Klappen schließen und Sicherheitsgurte anlegen“, rief Louis. „Wir starten!“
Nur wenige Minuten später kamen sie auf dem Campingplatz an. Dem Fahrrad war die Tour in die Johannisbeerbüsche nicht besonders gut bekommen. Sie stellten es am Ständer beim Gemeinschaftshaus ab und liefen zu ihrem Caravan. Dort duftete es schon intensiv nach Frikadellen, und Lis war fast fertig mit Tischdecken.
„Hallo Papa“, rief Louis schon von weitem, als er sah, daß Per am Wagenende stand und Angelzeug sortierte. „Du hast versprochen, mein Fahrrad zu flicken.“
„Das habe ich vergessen. Tut mir leid, entschuldige. Aber eigentlich solltest du langsam alt genug sein, so was selbst zu machen. So ein großer Junge von zehn Jahren.“
„Ja, aber du hast versprochen ...“
„Ja, ja, ja, ich werde es auch tun. Aber du guckst zumindest zu, wie ich es mache, damit du es nächstes Mal kannst“, sagte Per. Er wandte sich ihnen zu und zeigte triumphierend einen winzigen Fisch.
„Guckt mal, was ich gefangen habe!“
Manette bedachte ihren Vater und das Fischlein mit einem höhnischen Blick. Sie war keineswegs beeindruckt, aber Louis klatschte übertrieben begeistert in die Hände.
„Wow, Papa! Hast du den selbst gefangen? Ganz allein? Was du alles kannst!“
Per lachte geschmeichelt, während Louis bewundernd weitersprach: „Das ist bestimmt der größte Wattwurm, den ich jemals gesehen habe.“
„Wattwurm“, brauste Per auf. „Hat sich was mit Wattwurm, du kleine graue Milbe. Da steht dein alter Vater im Morgengrauen auf, um Nahrung für seine hungernden Kinder zu beschaffen, und dann ...“
„Nahrung!“ rief Manette empört. „Du glaubst doch nicht, daß wir dieses eklige Würmchen, das Selbstmord begangen hat, essen wollen? So hungrig sind wir nun auch wieder nicht.“ „Ich glaube, er hat den Köder mit nach Hause gebracht“, meinte Louis zu seiner Schwester.
„Lis!“ rief Per klagend. „Lis, weißt du, daß wir ganz undankbare und schlecht erzogene Kinder haben?“
„Ja. Merkst du das jetzt erst?“
Per schüttelte den Kopf. „Dann esse ich meinen Fisch allein. Ihr verdient es gar nicht, was abzubekommen.“
Lis setzte sich. „Nein, das verdienen sie nicht, aber da ich nun schon mal Frikadellen gebraten habe, denke ich, wir sollten Gnade vor Recht ergehen lassen.“
„Wir wollen gar nichts haben“, entgegnete Manette. „Wir müssen gleich zum Hafen runter.“
„Jetzt?“ fragte Lis und reichte den Teller mit den Frikadellen zu Per hinüber. „Wollt ihr gar nichts essen?“
„Nein, die Fähre kommt doch gleich“, antwortete Manette über die Schulter. „Wir können später was essen.“ Sie ging schon los, und Louis wollte ihr gerade folgen, als er zögerte.
„Ach was, ich klau’ mir noch schnell einen Bremsklotz!“ sagte er, und einen Augenblick später starrte Per verblüfft auf seinen leeren Teller, während Louis mit der Frikadelle in der Hand zur Einfahrt lief.
Sie konnten die Fähre schon sehen, als sie auf die Mole kamen. Manette starrte mit zusammengekniffenen Augen raus aufs Meer. Abwechselnd erschien das Fährschiff riesengroß und dann wieder winzigklein wie ein Spielzeugschiff. Manchmal sah es aus, als läge es still, und im nächsten Augenblick war es ein ganzes Stück näher gekommen. Ihr war schon klar, daß es sich hierbei um eine optische Täuschung handelte, aber dennoch verwunderte es sie jedesmal wieder.
Auf halbem Weg zur Molenspitze wurden sie von Anders auf seinem Transportfahrrad eingeholt. Louis durfte auf der Ladefläche mitfahren, während Manette versuchte, das letzte Stück bis zum Anleger Schritt zu halten.
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