Fichtl nickte. »Ja«, gab er zu, »das ist versäumt worden.«
Brucker hatte den beiden aufmerksam zugehört, dabei immer wieder die Männergruppe an der Theke beobachtet. Jetzt gab er seinem Chef ein Zeichen. Er sollte ja nicht unaufgefordert reden.
»Was ist?« fragte Fichtl.
»Wer ist denn der besoffene Fettling dort?« fragte Brucker. »Er ist mit unserer Straßenbahn gekommen.«
»Ferdinand Polacek«, sagte der Postenkommandant. »Arbeitet als Tankwart in der Stadt. Ihr findet ihn auf der Liste. Er wohnt neben dem Elternhaus der Weber Mitzi. Viermal die Woche besoffen, aber sonst harmlos.«
Die Tür ging auf, und ein unangenehmer Typ kam herein. Jüngerer Mann mit langem Haar, Ohrstecker, schwarze Lederjacke, auf der Bildchen von nackten Weibern klebten.
»Der steht auch auf der Liste«, sagte Binder. »Leopold Kucharsky, ein Cousin des Wirts. Arbeitet hier aushilfsweise als Kellner. Hat es bei der Weber Maria immer wieder probiert, sie hat ihn aber abgelehnt.«
»Kann ich verstehen«, murmelte Fichtl und beobachtete den Leopold.
»Ich brauch’ dich heut’ nicht, Poldl«, sagte der Wirt, »ist ja nichts los.«
Der Poldl nickte, schenkte sich ein Glas ein und stellte sich zu den anderen. »Draußen ist alles voller Gendarmen«, sagte er. »Einen Hund haben’s jetzt auch. Das wird denen auch nichts nützen. Mit einem Hund werden’s die Bestie nicht fangen.«
Es entwickelte sich eine rege und laute Diskussion über den Wert eines Polizeihundes bei der Verbrechensbekämpfung. Mit jedem Schluck Wein wurden die vorgebrachten Argumente heftiger.
»Hör sie dir an«, meinte Binder. »In einer haben Stunde gehen dann alle heim, voll von Alkohol und Aggressionen. Und dann ist jedem alles zuzutrauen. Oder fast alles.«
Fichtl und Brucker fuhren mit einem Taxi zurück in die Innenstadt. In einem Café am Schottenring genehmigten sich die beiden noch ein Glas Wein. Dem Chefinspektor war anzumerken, daß er mit der Situation im Fall »Bisambergbestie« gar nicht zufrieden war.
»Er wird jetzt nicht zuschlagen, solange die Gendarmeriestreifen unterwegs sind«, sinnierte er. »Aber ewig kann man ja die Gegend nicht lückenlos überwachen. Ich muß mir da etwas einfallen lassen.«
»Wie wäre es mit einem Köder?« fragte Brucker unvermittelt.
»Ein Köder …?«
Brucker erklärte, er könne schon irgendwo eine junge Frau auftreiben, die für ihn die Feldwege nach Bisamberg benutzen würde. Sie müßte aber mit der letzten 31 er nach Stammersdorf fahren und das Ganze einige Nächte lang in aufreizender Kleidung durchexerzieren. »Es kann nichts passieren, Chef«, sagte er eifrig. »Ich bin immer in ihrer Nähe. Wenn er zuschlägt, dann fass’ ich ihn.«
»Vergiß diesen Blödsinn«, sagte Fichtl ernst.
»Aber warum, Chef?« Brucker war enttäuscht.
»So etwas nennt man ›agent provocateur‹, das ist nach der Strafprozeßordnung streng verboten. Wenn Hofrat Putner das erfährt, reißt er uns den Arsch auf.«
Für den Chefinspektor war dieses Thema hiermit erledigt. Nicht aber für den eigensinnigen jungen Brucker.
Kriminalbeamte müssen gemäß einer generellen Anordnung der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit bis zu ihrem 42. Lebensjahr zweimal im Monat zum Judo-Training. Dieses Training findet zumeist morgens von 8 bis 10 Uhr statt. Die leitenden Kriminalbeamten sorgen dafür, daß sich keiner ihrer Untergebenen davor drücken kann, denn die Judo-Trainingsstunden sind nicht bei allen beliebt. Auch Kriminalbeamtinnen müssen daran teilnehmen, denn sie haben dieselben Rechte und Pflichten wie ihre männlichen Kollegen.
Am Tag nach dem Ausflug Fichtls und Bruckers nach Stammersdorf gingen Biggi und Brucker zum Judo-Training und kamen daher erst um 10 Uhr vormittags ins Büro. Biggi mit geröteten Wangen nach der heißen Dusche, Peter Brucker mit einem blauen Auge.
»Was ist denn mit dir passiert?« grinste Fichtl.
»Ah, die Biggi, dieses grobe Luder«, sagte Peter nur.
»Ich kann nichs dafür«, protestierte Biggi. »Wenn er bei den Abwehrgriffen so langsam schaut, dann passiert das eben.«
Der Chefinspektor lachte.
»Mach dir nichts draus«, tröstete er Brucker. »Die Biggi war einmal Jugendmeisterin im Judo und nimmt diesen Sport immer noch sehr ernst.«
Irgendwie beruhigte das Peter Brucker. »Nach dem nächsten Training muß sie ins Krankenhaus, Chef«, sagte er drohend.
»Wenn ihr mit euren Kindereien fertig seid«, sagte der Chefinspektor nun ernst, »darf ich euch vielleicht von den neuesten Anordnungen der Sonderkommission berichten.«
Fichtl machte es kurz:
»Alle in den letzten zehn Jahren wegen Sittlichkeitsdelikten gerichtlich abgeurteilten Personen männlichen Geschlechtes sind listenmäßig zu erfassen und für die Tatzeiten auf ihr Alibi zu überprüfen.«
»Aha«, meinte Peter Brucker interessiert.
Jetzt explodierte der Chefinspektor.
»Nix aha!« schrie er. »Merkst du nicht, was das für eine unsinnige Arbeitslawine ist?! Die von der Justiz werden uns jetzt eine Liste von einigen hundert Männern schicken, die wir alle befragen müssen. Die Antworten kenne ich im voraus. Oder weißt du vielleicht, wo du am Dienstag vor drei Monaten um 22.30 Uhr gewesen bist?! Du weißt es nicht mehr, stimmt’s?! Na also!!«
Brucker rieb sich sein blaues Auge. »Ach so meinen Sie das«, sagte er kleinlaut.
Dann dachte er eine Weile nach. »Meine Idee mit dem Köder wäre vielleicht doch erfolgversprechender«, wagte er vorzubringen. Er bereute es gleich wieder.
»Ich will davon nichts mehr hören«, sagte der Chefinspektor in sehr bestimmtem Ton. Da klingelte das Telefon, Fichtl mußte zu Hofrat Putner.
»Was war denn das für eine Idee mit dem Köder?« fragte Biggi neugierig.
Peter erzählte ihr alles. Auch seinen Reinfall mit Erika, er hatte sie seit damals nicht mehr gesehen.
»Du mußt das Mädel verstehen«, sagte Biggi. »Warum sollte sie sich Unannehmlichkeiten und Gefahren aussetzen? Das Ganze geht sie doch nichts an.«
Peter wurde nachdenklich.
»Hast du eigentlich Schuhe, die quietschen?« fragte er plötzlich.
»Was …??«
»Ob du daheim Schuhe hast, die quietschen?«
»Ist dir nicht gut? Hab’ ich vielleicht beim Judo zu fest hingelangt? Hast du Kopfschmerzen?«
Er lächelte.
»Ich hab’ mir nur gedacht«, sinnierte er, »daß, wenn ich einer Frau in der Nacht auf dem Feldweg nach Bisamberg folge, es doch gut wäre, wenn ihre Schuhe Geräusche verursachen. Ich kann mich dann orientieren und in Hörweite bleiben.«
»Ach, so meinst du das«, sagte sie leise.
Sie mußte jetzt an die Stunde am Bett der Maria Weber denken. Wie qualvoll diese arme Kreatur gestorben war. Sie sah ihr verkrampftes Gesicht, ihre flatternden Augenlider noch lebhaft vor sich.
»Du wirst lachen«, sagte sie. »Ich habe ein Paar Schuhe, die quietschen.«
Eine Minute lang schwiegen sie.
»Du bist ein Superweib«, sagte Peter bewundernd.
Ihre Antwort löste Heiterkeit in ihm aus. Sie gab genau denselben Satz von sich, den Fichtl um zwei Uhr früh in dem Café am Schottenring gesagt hatte: »Wenn Hofrat Putner das erfährt, reißt er uns den Arsch auf.«
Chefinspektor Fritz Fichtl war einer der erfolgreichsten Kriminalbeamten der Polizeidirektion Wien. Wenn er sich nicht gerade in seinem Büro über Sonderkommissionen und Hofräte ärgerte, saß er zumeist in seinem Stammlokal, im Café Martha. Er war geschieden, Kinder hatte er keine, und er fürchtete sich vor seiner leeren Wohnung. Zu bestellen brauchte er im Martha schon nicht mehr. Automatisch servierte ihm die Kellnerin sein Glas Wein und ein Tellerchen mit Erdnüssen. Er war ja dort wie zu Hause. Und wahrscheinlich hielt er sich in dem Café öfter und länger auf als in seiner Wohnung.
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