Der zweite auf der Liste des Gendarmerie-Postenkommandanten war ein vierzigjähriger Familienvater, der zur Zeit als Koch in einem Gasthaus in der Innenstadt beschäftigt war. Er hieß Anton Obermoser und hatte früher einmal im Schwarzen Adler gearbeitet. Viermal war er wegen Körperverletzung vorbestraft. Interessiert las Fichtl eine unterstrichene Stelle in Binders Beschreibung, der zu entnehmen war, daß es immer Frauen waren, die der Obermoser verdroschen hatte. Zweimal war es seine eigene Frau, und das Motiv der Rauferei war nicht eruierbar, weil sie sich der Aussage vor Gericht entzogen hatte. Einmal war es eine Kellnerin in der Innenstadt, die sich geweigert hatte, ihm noch Alkohol auszuschenken, und schließlich eine Hilfsköchin, die sehr dagegen war, mit dem Obermoser in der Betriebsküche auch noch andere Dinge zu tun als zu kochen. Natürlich war in allen vier Fällen Alkohol im Spiel, was von den Gerichten wie üblich stets als mildernd gewertet wurde.
Nummer drei war ein Gastarbeiter aus Jugoslawien, der 37jährige Milan Belkovic, schon seit zehn Jahren in einer Baracke in Stammersdorf wohnhaft und als überaus fleißiger Arbeiter bekannt. Tagsüber war er bei einer Straßenbaufirma beschäftigt, abends pfuschte er privat bei Häuslbauern oder sonstwo, gegenwärtig schon seit Monaten bei der Renovierung einer Hausruine in der Innenstadt. Vorstrafen hatte er keine. Im Gegenteil, vor einem halben Jahr war er im Wiener Prater von einem Zuhälter mit einem Schlagring selbst erheblich verletzt worden. Der Postenkommandant berichtete, daß es der Milan in Stammersdorf bei der Befriedigung seiner sexuellen Wünsche eben recht schwer habe. Im Dorf war er »der Tschusch«, und Frauen oder Mädchen hätten sich ja der Verachtung ausgesetzt, wenn sie sich mit ihm eingelassen hätten. Was also blieb ihm anderes übrig, als ab und zu Prostituierte aufzusuchen? Auch hier war er sparsam und bevorzugte die als billig bekannten Praterhuren. Und bei dem Streit mit dem Zuhälter ging es ja auch um Geld, weil Milan eben für angebliche Sonderbehandlungen nicht mehr zahlen wollte, als er gewohnt war.
Der vierte und letzte auf Binders Liste war jener Leopold Kucharsky, den Fichtl ja schon im Schwarzen Adler gesehen hatte. Aushilfskellner und Cousin des Wirtes. Viel konnte der Postenkommandant nicht über ihn berichten, außer, daß er ihm »gefühlsmäßig« jede Gaunerei zutraute und daß er ihn seit langem in Verdacht hatte, Haschisch zu rauchen und damit auch zu handeln. Beweise gab es keine. Im Schwarzen Adler half er immer nur spät abends aus, tagsüber saß er in einer Videothek im dritten Bezirk herum und verlieh Pornofilme. Das war alles.
Es war zwar nicht viel, für den Chefinspektor aber Grund genug, von jedem der vier Männer eine Art Arbeitsakte anzulegen, nur für seinen persönlichen Gebrauch. Er nahm vier Umschläge und schrieb die Namen auf den Pappdeckel, forderte Fotos an, machte zur Sicherheit noch je eine Anfrage in der Datenstation und beim Erkennungsdienst und überlegte, ob und in welcher Form er seine nächsten Pläne Hofrat Putner zur Kenntnis bringen sollte. Lange überlegte er nicht. Wie er fand, war es noch viel zu früh, dem Hofrat etwas zu sagen.
Die vier Verdächtigen hatten eine gemeinsame Eigenschaft. Sie alle waren Stammgäste im Schwarzen Adler . Und sie trafen sich dort zumeist kurz vor Mitternacht, tranken und diskutierten an der Theke. Wenn der Wirt früher schlafen ging, übernahm sein Cousin Leopold das Einschenken und Abkassieren, was ihn aber nicht daran hinderte, an der geselligen Runde teilzunehmen. Der Chefinspektor hatte nun folgende Idee: Einem befreundeten Journalisten wollte er einen Tip geben, und dieser sollte einige Interviews, eine Art Meinungsumfrage, zum Fall »Bisambergbestie« durchführen. Für die Presse war das ja ein aktuelles Thema. Dabei sollte der Zeitungsmann auch in den Schwarzen Adler kommen. Zu einem Zeitpunkt, wo der Alkohol dort schon die Zungen gelockert hatte. Die Hoffnung Fichtls war dabei, daß sich vielleicht einer der vier verplapperte und irgendeine Kleinigkeit erzählte, die nur der Täter wissen konnte. Natürlich würde Fichtl vorher alles mit dem Postenkommandanten absprechen, mit dem die Interviews der Unauffälligkeit halber auch beginnen sollten. Der Journalist hieß Franz Wallisch und arbeitete für eine Wochenzeitung, ein tüchtiger Bursche. Er würde allen eine Menge Fragen stellen, auch wie und wo sie von den einzelnen Überfällen erfahren hatten. Die Antworten sollte er auf Tonband aufnehmen, und die Resultate wollte sich Fichtl dann genau anhören.
Als der Chefinspektor seinen engsten Mitarbeitern von diesem Plan erzählte, zeigten diese wenig Begeisterung. Brucker nickte nur und rieb sich sein noch immer blaues Auge, die Kriminalbeamtin gähnte herzhaft.
»Was ist denn mit euch los?« fragte Fichtl verärgert. »Eure Schläfrigkeit fällt mir jetzt schon seit Tagen auf. Was macht ihr denn eigentlich in der Nacht …? Habt ihr ein Verhältnis miteinander …?«
Die beiden lachten. »Aber Chef«, sagte Biggi, »was für eine unsinnige Verdächtigung.« Ihre Stimme klang müde.
Mit der schläfrigen Müdigkeit der beiden in den Bürostunden hatte es eine besondere Bewandtnis: Sie hatten mit ihrem »Köderspiel« begonnen, wanderten nachts zwischen Stammersdorf und Bisamberg hin und her. Biggi mit quietschenden Schuhen, Peter in Hörweite dahinter. Und vor drei Uhr morgens kamen sie eben nicht ins Bett. Ihr Dienst begann aber schon um halb acht.
Sie wollten sich gegenseitig nicht eingestehen, daß sie sich mit ihrem »Köderspielen« ein wenig zuviel zugemutet hatten. Denn nicht nur die Folgen der kurzen Schlafzeiten hatten sie unterschätzt. Auch die deprimierende Eintönigkeit dieser halben Nächte machte ihnen zu schaffen. Dieses langweilige Warten darauf, daß endlich etwas passieren würde. Es passierte aber nichts. Alles war ruhig, friedlich. So hofften sie auf die nächste Nacht. Erleichterung überfiel sie, wenn ein Wochenende bevorstand. An Samstagen und Sonntagen blieben sie daheim, weil an diesen Tagen noch nie etwas passiert war.
Der Ablauf des Köderspiels war jede Nacht der gleiche:
Peter fuhr mit seinem Auto zur Endstation Stammersdorf, wartete dort auf die letzte Straßenbahn. Biggi stieg in der Innenstadt, am Schottenring, in diesen letzten 31er, grell geschminkt, in einem kurzen Lederrock, dünner Seidenbluse. Ohne Büstenhalter, die Brüste wackelten im Takt des Ratterns der Straßenbahn. Wurde sie angesprochen, gab sie abweisende, schnippische Antworten und sah dann zum Fenster hinaus. Niemand hätte in dieser aufgemotzten Tussie eine Kriminalbeamtin vermutet. Wirklich niemand.
An der Endstation stieg sie aus, ging zielstrebig Richtung Bisamberg. Nicht, bevor sie den wartenden Peter gesehen hatte. Denn er hatte ihr eingeschärft, sofort per Taxi wieder heimzufahren, sollte er einmal nicht da sein. Es konnte ihm ja etwas dazwischengekommen sein, ein Unfall oder so.
Eine Stunde dauerte dann der Hin- und Rückweg. Peter hörte in dieser Zeit nur das Quietschen ihrer Schuhe, und ab und zu das Zirpen der Grillen.
Wieder in Stammersdorf, stiegen sie in Peters Auto, und er fuhr sie nach Hause. Beide einsilbig, in gedrückter Stimmung. Die Frage drängte sich auf, wie lange das noch so weitergehen sollte.
Es geschah am darauffolgenden Dienstag: Biggi hatte ihre Wanderung aufgenommen, Peter folgte in Hörweite. Alles war ruhig. Er hörte nur das Quietschen ihrer Schuhe und das Zirpen der Grillen. Es war Neumond, die Gegend war sehr finster.
Ganz plötzlich hörte das Geräusch ihrer Schuhe auf. Peter blieb stehen, lauschte. Nichts rührte sich.
Er begann zu laufen, zog seine Taschenlampe heraus, blieb wieder stehen, horchte. Kein Geräusch.
Wieder lief er ein paar Schritte. Links von dem Pfad war eine Böschung, es ging etwa drei Meter schräg abwärts in ein Feld.
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