Der kleine Polderl war gerade zehn Jahre alt gewesen, als er eines Tages von der Schule heimkam und sich wunderte, weil es im Hause so erbärmlich nach Gas stank. Er fand seine Mutter in der Küche am Boden liegend mit einem Gasschlauch vom Backrohr in der Hand, bewußtlos. Der geschockte Junge riß die Fenster auf, rief Nachbarn zu Hilfe. Der Notarztwagen brachte seine Mutter ins Spital. Aus dem aufgeregten Getratsche der Nachbarsleute erfuhr er Schreckliches. Seine Mutter hatte Selbstmord verüben wollen, weil der Vater die Familie verlassen hatte. Der Bruder seiner Mutter, der Wirt vom Schwarzen Adler , holte ihn von daheim ab und schimpfte schrecklich über seinen Vater. Einen Verbrecher nannte er ihn. Und über diese Hure schimpfte er, über seine Kellnerin, die mit dem Vater davongelaufen war. Die wäre überhaupt an allem schuld.
Am nächsten Tag schickte ihn der Onkel wieder zur Schule, wo er sich von seinen Mitschülern anhören mußte, daß seine Mutter ein blödes Weib wäre, weil man sich eben nicht umbringt, wenn man ein Kind und damit Verantwortung hat. Die Kinder redeten das nach, was sie von ihren Eltern gehört hatten. Darauf entstand eine wilde Schlägerei unter den Buben, weil der Polderl nicht zulassen wollte, daß man seine Mutter ein blödes Weib nannte. Da die anderen in der Überzahl waren, wurde der Junge ordentlich verdroschen.
Nach drei Tagen war seine Mutter wieder aus dem Krankenhaus zurück. Sie sprach mit niemandem über ihr Problem, auch nicht mit ihrem Buben. »Das verstehst du noch nicht«, sagte sie nur. »Später, wenn du größer bist, erzähl’ ich’s dir.«
Ein- oder zweimal im Monat kam es jetzt vor, daß sie sich betrank. Und dann schrie sie manchmal wie eine Irre, und der Junge mußte sich anhören, daß er an der ganzen Misere schuld wäre, weil er sie damals nicht ruhig hatte sterben lassen.
An seinem 14. Geburtstag schenkte ihm die Mutter ein Fahrrad und erzählte ihm außerdem, daß sein Vater nach Australien ausgewandert wäre. Schuld an allem wäre nur diese Kellnerin, diese Hure. Er solle sich vor schlechten Frauenzimmern in acht nehmen, wenn er einmal erwachsen sei. Damals fing er an, im Schwimmbad durch Astlöcher in den hölzernen Umkleidekabinen Mädchen und Frauen beim Ausziehen zu beobachten, heimlich bei Freunden Nacktfotos zu tauschen und Porno-Heftchen zu sammeln. Und zu onanieren. Gleichaltrigen Mädchen rief er manchmal ordinäre Schimpfworte nach, oder er bewarf sie mit Steinen.
Mit 15 kam er in eine Lehre, zu einem Elektriker. Mit 18 legte er die Gesellenprüfung ab. Die gleichaltrigen Burschen hatten jetzt schon Freundinnen, mit denen sie halbe Nächte lang auf Parkbänken saßen. Leopold Kucharsky konnte oder wollte keine finden, weil er jedes Mädchen nach dem zweiten Glas Bier oder Wein gleich beschimpfte und eine Hure nannte. Die einzige Frau, mit der er eigentlich reden konnte, war seine Mutter.
Sie hatte aufgehört zu trinken und sorgte sich jetzt rührend um ihren Sohn.
Erst im Lauf der nächsten Jahre begann sie sich wegen der abartigen Veranlagung ihres Leopold dem weiblichen Geschlecht gegenüber Sorgen zu machen. Sie empfahl ihm dieses oder jenes Mädchen aus der Nachbarschaft, aber er winkte nur ab. »Die brauch’ ich nicht«, pflegte er zu sagen, »ich hab’ ja dich, Mutti.«
Die Warnung seiner Mutter vor dem Postenkommandanten nahm er nicht sonderlich tragisch. Was wußte schon so ein Landgendarm von seinem Leben, seinen Problemen. Trotzdem ließ ihm die Sache irgendwie keine Ruhe. Und siehe da, es kam noch schlimmer.
In der Videothek im dritten Bezirk, wo er angestellt war, erschien eines Vormittags ein jüngerer Mann, erkundigte sich nach diesem und jenem, kaufte aber nichts. Er ließ sich eine Videokassette vorspielen und ging dann wieder.
Der Kerl war ihm merkwürdig bekannt vorgekommen, er konnte ihn aber vorerst nirgends einordnen. Erst als er am nächsten Tag wiederkam und im Geschäft gelangweilt herumsuchte, wurde es dem Leopold zur Gewißheit: Er hatte ihn einmal in Gesellschaft des Postenkommandanten und eines älteren, ihm unbekannten Mannes im Schwarzen Adler gesehen. Und die drei, so hatte sein Onkel in der Küche behauptet, waren Kriminalbeamte aus der Stadt.
Konnte das ein Zufall sein? Und wenn nicht, was wollte der junge Kriminalbeamte in seiner Videothek? Wieder war er gegangen, ohne etwas zu kaufen, und so beschloß Leopold Kucharsky, ihn direkt zu fragen, sollte er noch einmal kommen.
Tatsächlich erschien der junge Inspektor drei Tage später wieder. Diesmal hatte er eine Videokassette bei sich und fragte, ob man sie ihm vorspielen könnte, weil er zu Hause keinen Recorder besitze. Mißtrauisch schob Leopold die Kassette in ein Gerät und schaltete ein.
Was dann geschah, wurde für Leopold Kucharsky zum Schock seines Lebens.
Der Bildschirm blieb schwarz. Nur der Ton funktionierte; man hörte undeutlich Schritte, das war alles. Leopold wollte gerade seiner Kundschaft erklären, daß mit der Kassette etwas nicht in Ordnung sei, als aus dem Gerät eine Männerstimme ertönte, laut und unheimlich anzuhören.
»Biggi!« schrie die Stimme. »Biggi, wo bist du … Biggi!!«
Leopold Kucharsky war starr vor Schreck, sein Gesicht kreideweiß.
Und wieder diese Stimme: »Biggi …! Biggi, wo bist du …?!«
In seinem Kopf dröhnte es. Inspektor Brucker schaltete den Apparat ab. Das Knacken des Schalters traf wie ein Schuß ins Bewußtsein des Leopold Kucharsky. Wie aus weiter Feme hörte er jetzt denselben Mann mit ruhiger Stimme sagen: »Sie sind verhaftet. Gegen Sie liegt Mordverdacht vor.«
Die Tür ging auf. Der Chefinspektor kam herein. Brucker nickte ihm zu. Sie zogen Kucharsky vom Sessel. Die Handschellen klickten. Sie nahmen ihn in die Mitte. Beim Verlassen der Videothek mußten sie ihn stützen. Im Auto auf der Fahrt ins Sicherheitsbüro begann Leopold Kucharsky zu weinen.
Als er im Büro auf einem Sessel saß, weinte er immer noch. Die Handschellen wurden ihm abgenommen.
»Tut es dir jetzt leid?« fragte der Chefinspektor. Merkwürdig, das klang beinahe mitfühlend.
»Ja«, hauchte Leopold.
Eine Frau kam ins Zimmer, stellte sich vor ihn. Sie sagte kein Wort. Wieder durchfuhr ihn ein gewaltiger Schreck. Es war diejenige, die ihn in die Hand gebissen hatte, die von der Straßenbahn.
»War das die letzte?« fragte der Chefinspektor.
»Ja«, antwortete Kucharsky. Alles drehte sich jetzt vor ihm. Die Frau verließ das Zimmer. Er mußte sich an der Sessellehne festhalten.
Ein Polizeiarzt kam herein, untersuchte seine fast vernarbte Bißwunde, zapfte ihm aus einem Ohrläppchen einige Blutstropfen ab. Dann mußte er aufstehen. Der junge Inspektor untersuchte seine Kleidertaschen und legte alles, was er fand, auf einen Schreibtisch. Das Feuerzeug aus Rosy’s Bar war darunter.
»Wir beginnen jetzt ganz von vorne«, sagte der Chefinspektor. Und wiederum klang seine Stimme beinahe väterlich.
In den nächsten 48 Stunden gestand Leopold Kucharsky elf Überfälle auf Frauen in der Gegend um Stammersdorf-Bisamberg. Zehn Notzuchtfälle und den Mord an Maria Weber. Die Kriminalbeamtin hatte recht gehabt: Die Weber Mitzi hatte den Täter erkannt. »Poldl«, hatte sie geschrien, »na wart, das sag’ ich bei der Gendarmerie.« Er war in Panik geraten und hatte nach einem Stein gegriffen, der in der Nähe lag.
Die Kriminalbeamtin hatte auch recht mit ihrer Annahme, daß nicht alle Verbrechensopfer Anzeige erstattet hatten. Kucharsky gestand Überfälle, die gar nicht aktenkundig waren. Und in all seinen Geständnissen gab er Einzelheiten bekannt, die nur der Täter wissen konnte. Die Beweislage war eindeutig.
Hochstimmung herrschte im Sicherheitsbüro, geradezu euphorisch reagierte die Sonderkommission. Hofrat Putner war allerdings leicht schockiert, als ihm der Chefinspektor die Klärung des Falles meldete und ihm schilderte, auf welche Art diese zustande gekommen war.
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