Ich habe viele schöne Erinnerungen an wunderbare Geburtstage, aber mein sechster ist als etwas ganz Besonderes in meinem Gedächtnis verankert. Wen wundert’s, daß Geburtstage in unserer Familie einen extrem hohen Stellenwert haben? Wir betrachten diesen Tag als den wichtigsten Tag im Jahr und tun alles, damit das Geburtstagskind das auch 24 Stunden lang – und davor und danach auch noch, wenn möglich – so empfindet.
Der Frühling 1945 ist eine Zeit voller Falschmeldungen, Ängste, Gerüchte. Und permanent lauert die Gefahr, daß ganz überzeugte Nazis, von denen es immer noch genügend gibt, jemanden wie meine Mutter, die laut über das Kriegsende und eine Zeit danach nachdenkt, erschießen. Endlich: der Mai 1945. Zum Glück sind es die Amerikaner, die uns befreien. Denken Sie an all die Hollywood-Filme, die diesen Teil der Geschichte auf Zelluloid verewigt haben – so ähnlich war das schon, aber erst, nachdem die Befreier wußten, daß sie an einem Ort sicher waren. Bis dahin benahmen sie sich durchaus so, wie man sich eine erobernde Truppe vorstellt.
Aus der sicheren Distanz von bald sechs Jahrzehnten ist das vielleicht schwer verständlich; wenn ich mir die Situation damals vergegenwärtige, überrascht es mich jedoch gar nicht. Es sind zum Teil blutjunge GIs, auf Eroberung getrimmt. Sie müssen beim Einzug in die Dörfer jedes Haus durchsuchen und jeden Bauernhof bis in die letzte Ecke durchstöbern, auf der Suche nach Waffen oder deren Besitzern. Sie agieren mutig, indem sie die Menschen, denen sie begegnen, anschreien – dabei ist ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben. Danach verteilen sie Schokolade und Zigaretten, reagieren aber äußerst nervös auf unvermutete Bewegungen ihres Gegenübers. Vergewaltigungen waren gewöhnlich nicht ihr Stil – sie waren auch nicht angesagt, denn die meisten Frauen haben sich nur zu gerne hingegeben. Was hat eine Frau damals nicht alles getan für ihr erstes Paar Nylonstrümpfe, für Milchpulver oder Hershey Kisses, diese lustigen kleinen Schokoladestückchen aus den amerikanischen Militärrationen?
Ich erinnere mich an all das sehr genau, denn an dem Vormittag, als Siersleben »erobert« wurde, stand ich mit meiner Mutter vor dem Dorfladen. Wir standen wieder einmal an. Das ist die Beschäftigung, die in Kriegs- und Krisenzeiten wohl die meisten Stunden beansprucht: Anstehen, in der Hoffnung, daß man rechtzeitig »drankommt«, um noch etwas von dem zu ergattern, was an dem Tag gerade verfügbar war. In vielen Fällen hatten wir überhaupt keine Ahnung, was das Tagesangebot war; man nahm, was man kriegen konnte. Wenn man es selbst nicht brauchen konnte, hatte man wenigstens etwas zum Tauschen. Wir stehen also in einer langen Schlange, und plötzlich kommt der erste Panzer um die Ecke, gefolgt von mehreren anderen, Jeeps und Lastwagen. Ein Offizier springt herunter, rennt mit vorgehaltenem Gewehr auf die völlig verängstigten Frauen zu und schreit in bestem Deutsch: »Na, wo ist er denn, euer Führer? Wo ist er jetzt, wo ihr ihn brauchen könntet?« Die Dorfbewohnerinnen schreien und weinen ihrerseits und wollen nach Hause rennen. Das verhindern jedoch die Amerikaner, von denen jetzt einige um uns herumwuseln. Weiß der Himmel, wofür sie trainiert worden waren; so wie sie da herumstehen, alle mit Gewehren schußbereit in der Hand, scheinen sie auch nicht so recht zu wissen, was sie mit diesen aufgelösten Frauen anfangen sollen.
Meine Mutter übernimmt die Führung, nicht zuletzt, weil der aufgeregte Offizier sie direkt anschreit. Sie erklärt ihm, daß er von dieser Gruppe nichts zu befürchten hat, muß aber weitere höhnische Bemerkungen über sich ergehen lassen. Was immer sie dann noch geredet bzw. geschrieen haben, hat dazu geführt, daß sich die Frauen schließlich nach Hause flüchten dürfen, während die Besetzung ihren Gang nimmt. Ein paar GIs werden abkommandiert, um meine Mutter die ca. hundertfünzig Meter nach Hause zu begleiten. Das ist das Ende unseres zweiten Zimmers, das die Soldaten sofort beschlagnahmen. Wir dürfen noch ein Bett ins andere Zimmer tragen, dann wird das ehemalige Schlafzimmer geräumt, und so haben wir die Besatzer direkt im Haus.
Mai 1945. Nachdem sich alle vom ersten Schock erholt hatten, nachdem alle Waffen eingesammelt worden waren (erstaunlich, wie viele davon noch in diesem verschlafenen Dorf vorhanden waren), nachdem die alten oder invaliden Männer – einschließlich des Vaters unserer Hausbesitzerin vom ersten Stock – verhört und meistens wieder freigelassen worden waren, kehrte eine gewisse Normalität ein. Wir gewöhnten uns an die freundlichen, heimwehkranken Soldaten, die immer irgend etwas verteilten und zu einer Sechsjährigen ausgesprochen nett waren. Die Menschen konnten wieder lachen oder einen Frühlingstag genießen. Selbstverständlich beeilten sich alle, den Amerikanern zu versichern, wie froh sie über die Befreiung seien. Selbstverständlich hatte keine(r) im Dorf je etwas mit den Nazis zu tun gehabt – warum hätten auch diese Dorfbewohner anders sein sollen, wo es doch, wie wir später herausfinden würden, in ganz Deutschland keine Nazis gegeben hatte ...?!
Ein ungefähr fünfundzwanzigjähriger GI war besonders freundlich. Er hatte sich wohl ein bißchen in meine Mutter verguckt. Sie war zwar Ende dreißig und im vierten Monat schwanger, aber sie hatte immer noch die Allure einer Städterin, und sie war ein liebenswürdiger Mensch. Sie konnte den jungen Mann auf Distanz halten und sich trotzdem auf ihn als Beschützer verlassen. Für sie war er wie ihr Stiefsohn, der ihr 1943 abhanden gekommen war.
»Stiefsohn? Was für ein Stiefsohn?« höre ich Sie sagen. Also, erwähnt habe ich ihn schon, aber nur im Zusammenhang mit meinem Vater, erinnern Sie sich? Aber Sie haben Recht: Ich schulde Ihnen diesen »Stiefsohn«, der jetzt, wo er in diese Geschichte platzt, bereits zwei Jahre als »vermißt« gilt. Also, hier ist er: Günter Ring, geboren ca. 1922/23 in Duisburg.
Als meine Eltern heirateten, gab es im Rheinland einen kleinen Jungen namens Günter, der in einem Waisenhaus untergebracht war. Normalerweise befinden sich ja in solchen Institutionen Kinder, die keine Eltern mehr haben. Dieser Junge hingegen hatte vier, denn die Ex-Frau meines Vaters hatte auch wieder geheiratet. Beide natürlichen Eltern wollten jedoch nichts mit dem Kind zu tun haben und hatten es in dieses Waisenhaus abgeschoben. Als meine Mutter davon erfuhr, war sie empört; kurz entschlossen machte sie dieser absurden Situation ein Ende, indem sie meinen Vater veranlaßte, »das Kind« nach Berlin kommen zu lassen. Und so wurde die zweiundzwanzigjährige, frisch gebackene Ehefrau in kurzer Zeit Stiefmutter eines Siebenjährigen.
Muß man erwähnen, daß dieser Junge meine Mutter anbetete? Die beiden haben sich vom ersten Moment an gut verstanden – ich habe ja schon erwähnt, daß meine Mutter für die Mutterschaft geradezu prädestiniert war. Aus dem verstörten Waisenhaus-Insassen wurde in kurzer Zeit ein intelligenter, fröhlicher Junge, der sich enorm gefreut haben soll, als er eines Tages als Siebzehnjähriger eine kleine Schwester in den Armen hielt. Ich hätte mir keinen besseren Bruder vorstellen können, nur habe ich nicht viel von ihm gehabt. Er wurde früh eingezogen, kam dann ein paar Mal auf Urlaub nach Hause – und dann eben eines Tages nicht mehr. Es hat lange gedauert, bevor meine Mutter akzeptieren konnte, daß dieser Junge, der so abrupt in ihr Leben gekommen war, genau so plötzlich daraus wieder verschwunden war. Sie und ich haben ihm ein liebendes Andenken bewahrt; ich kann mich nicht erinnern, daß mein Vater je von ihm gesprochen hat. Ich glaube, die beiden konnten es nicht so gut miteinander; Günter hat es seinem Vater wohl nie verziehen, daß dieser sich eigentlich schon sehr früh aus seinem Leben verabschiedet hatte.
Der junge GI also, altersmäßig zwischen meiner Mutter und mir, war für sie so etwas wie der Ersatz für den Stiefsohn. Er, der nur Englisch sprach, sah sie wohl eher als Frau. Jedenfalls war die Trauer groß, als er von Siersleben abgezogen wurde, und die Briefe, die er ihr danach geschrieben hat und die sie anhand eines Wörterbuches, das er ihr geschenkt hatte, zu entziffern versuchte, waren eindeutig schwärmerische Liebesbriefe.
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