Wenigstens haben wir von diesem Fahrrad ein paar gute Mahlzeiten gehabt. Im Frühsommer 1944 haben sich die Bauern noch um solche Raritäten gestritten und in Tauschgeschäften überboten, ein Jahr später hätten sie dafür nur noch ein müdes Lächeln aufgebracht, denn da lagen die Perserteppiche schon in ihren Kuhställen, weil sie so viele davon gegen ein Pfund Butter, ein paar Kilo Kartoffeln oder zehn Eier eingetauscht hatten. Sobald mein Vater sich als Fahrlehrer aus meinem Leben verabschiedet hat, habe ich selbstverständlich radfahren gelernt. Wie gut ich das später konnte, habe ich als Dreizehnjährige unter Beweis gestellt, als ich für einen Lesezirkel die wöchentliche Auslieferung in der Altstadt Duisburgs übernahm und ein Fahrrad mit einem großem Aufsatz auf dem Vorderrad über das holprige Pflaster balancieren mußte.
Meine Mutter hat nie ein Buch über Kindererziehung gelesen; als leidenschaftliche Mutter hat sie jedoch das meiste richtig gemacht. Mein Vater hätte nur gelacht, wenn man mit ihm die Existenz solcher Bücher diskutiert hätte – seine Erziehungsmethoden basierten auf Drohungen, auf der Hand, die ihm leicht ausrutschte, und auf dem Hohn, mit dem er mich überhäufte, wenn ich etwas auf Anhieb nicht verstand oder versuchte, ihn noch umzustimmen.
Aber noch sind wir nicht in Duisburg, sondern immer noch in Ostpreußen, wo es im Herbst 1944 zunehmend ungemütlich wird. Also beschließt der Staat, die bereits evakuierte Bevölkerung nochmals zu evakuieren. Diesmal ist es Thüringen, wo wir in einem Dorf namens Siersleben landen.
S-i-e-r-s-l-e-b-e-n! Wie wird man mit so etwas fertig? Wie überlebt vor allem eine elegante Städterin wie meine Mutter diese erneute Verpflanzung? Knapp, würde ich sagen. Zehn Kilometer weiter, und wir wären in Eisleben gelandet. Eisleben ist der Ort, wo Martin Luther geboren wurde – das können wenigstens einige Menschen nachvollziehen. Siersleben hingegen hätte es gar nie geben dürfen; dort sah sogar Kreuzingen in der Rückschau gut aus ...
Siersleben besteht in meiner Erinnerung aus einer Hauptstraße und einer Reihe von Bauernhöfen. Vielleicht hat es mehr als das gegeben, vielleicht war das schon alles. Wir jedenfalls waren im Parterre eines Privathauses an der Hauptstraße einquartiert, anfänglich in zwei Zimmern. Im zweiten Stock die Hausbesitzerin, im ersten ihr debiler alter Vater, der, wie sich dann herausstellte, so debil gar nicht war: Er war einer der ersten, der beim Einmarsch der amerikanischen Armee ein großes weißes Laken aus einem der Fenster hängte und die Befreier stürmisch begrüßte. Unnötig zu betonen, wie sehr sich diese beiden gefreut haben, daß da diese offensichtlich verrückte Berlinerin mit ihrem gräßlich aufgeweckten Kind bei ihnen zwangseinquartiert wurde – und später auch noch der aus der Gefangenschaft entlassene Ehemann dazukam!
Daß meine Mutter nicht normal sein mußte, konnte man leicht erkennen: Sie besaß einen Wintermantel, sogar einen aus Pelz. Diese Tatsache alleine machte sie in dem ganzen Dorf suspekt, was allerdings auf totaler Gegenseitigkeit beruhte: Meine Mutter starrte die Frauen an, die in eine Wolldecke gehüllt daherkamen, ihre kleinen Kinder auf dem Arm, in dieselbe Decke eingebunden. Es erinnerte an mexikanische oder südamerikanische Urbevölkerungen – und war doch nur einige hundert Kilometer von Berlin entfernt. Bald sollte wenigstens der Pelzmantel kein Stein des Anstoßes mehr sein, denn auch er wurde »verfuttert«. Aber meine Mutter konnte, wie gesagt, wunderbar nähen und sah halt auch zu der Zeit noch gut aus. Die Frauen haßten sie geradezu und ließen sie das spüren, wenn sie über Land ging, wie das damals hieß. Das bedeutete: Meine Mutter zog sich so an, daß sie auf matschigen Landstraßen von Bauernhof zu Bauernhof gehen konnte, um dort mit Tauschgeschäften für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie lernte bald, daß sie gar nicht erst anfangen mußte zu verhandeln, wenn die Bäuerin zuerst auftauchte. »Wir haben nichts!«, wurde ihr dann in breitestem thüringischen Dialekt zugerufen, bevor sie auch nur die Türe erreichte. Waren es hingegen die Bauern, die zuerst auf sie aufmerksam wurden – meistens alte oder invalide Männer, die nicht mehr an die Front geschickt werden konnten –, so hatten wir eine Chance (»wir«, denn manchmal nahm sie mich mit – mit dem Kind an der Hand erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, daß sie nicht mit leeren Händen vom Hof gehen mußte, aber nur, wenn dieses Kind den Mund nicht aufmachte), daß ein paar Grundnahrungsmittel uns für ein paar Tage über die Runden bringen würden.
Warum mußte ich stumm dabeistehen, wenn meine Mutter verhandelte? Nun, die Dorfbewohner waren von mir genauso angetan wie von meiner Mutter. Im Gegensatz zu Ostpreußen schien es in diesem Dorf fast keine Kinder zu geben, jedenfalls kann ich mich kaum erinnern, daß Kinder mit mir spielten. Und so waren wir beide wieder einmal symbiotisch verbunden. Da ich mein ganzes sprechendes Leben lang dazu angehalten worden war, »anständig« zu reden, bitte und danke zu sagen, zu knicksen, wenn ich jemandem die Hand gab und was dergleichen Dinge mehr sind, waren mein Wortschatz und die Themen, die mich interessierten, weit jenseits des Horizonts der Dorfbewohner; sie verstanden mich nicht, und ich fand sie doof.
Der Krieg kam ins Endstadium. Die linientreuen Dorfbewohner hatten damit ihre Mühe und hielten tapfer an ihren Illusionen fest. Meine Eltern hatten sich auseinandergelebt. Meine Mutter hatte gelernt, ohne ihren Ehemann auszukommen, und wollte die hart erarbeitete Freiheit nicht mehr aufgeben. Inzwischen war mein Vater in Ostpreußen stationiert, nicht weit von dem Dorf entfernt, in dem wir gelernt hatten, was ländlich-sittlich heißt. Unter den schwierigsten Umständen gelang es meiner Mutter, ihn dort zu besuchen. Es war Januar 1945; die russischen Geschütze waren bereits in Hörweite. Am 19. hatte mein Vater Geburtstag, und sie hatte ein besonderes Geschenk für ihn: Sie war zu ihm gereist, um ihm persönlich mitzuteilen, daß sie sich nach Kriegsende von ihm scheiden lassen würde! Mein Vater honorierte das auf seine Weise, was sie jedoch erst später realisierte. Im März 1945 erkannte sie, daß sie wieder einmal schwanger war. Damit war das Thema Scheidung vorerst vom Tisch – und das war genau, was mein Vater gewollt hatte.
Ziehen Sie jetzt nicht die Augenbrauen hoch. So, wie ich das hier zu Papier bringe, wirft es ein etwas seltsames Licht auf meine Mutter, da gebe ich Ihnen Recht: Sie fährt unter den schwierigsten Umständen zu ihrem Ehemann, um ihm die geplante Scheidung mitzuteilen, und kommt schwanger zurück! Aber die Situation im Januar 1945 in Ostdeutschland war eine andere, und mein Vater war in bezug auf Charme und Verführung kein Anfänger. Er wußte zudem, was ihm guttat: die beste Zeit seines Lebens war die an der Seite meiner Mutter gewesen, und wohin wollte er denn aus dem Krieg heimkommen, wenn nicht zu einer Familie? Und dann: Können Sie sich eine bessere Zeit für eine Schwangerschaft vorstellen als das Ende des Zweiten Weltkriegs? Eben.
Am 12. Februar 1945, in einem der kältesten Winter, wurde ich sechs Jahre alt. Jeder Geburtstag vorher war ein erinnerungswürdiger Tag gewesen. Ich glaube, meine Mutter hat jeweils das ganze Jahr über geschaut, was sie mir zu meinem großen Tag schenken könnte, und wenn es nichts Gekauftes war, dann war es etwas Selbstgemachtes – immer aber gab es einen Gabentisch, wenn er auch noch so bescheiden war. Im Februar 1945 war ihr das aber nicht gelungen; anderseits wollte sie ihre Tochter nicht enttäuschen. Und dann erinnerte sie sich an einen ziemlich teuren Schildpattkamm, den sie in ihrer »guten« Handtasche hatte. Ich spielte so gerne mit diesem Ding, das sich eigentlich als Kinderspielzeug nicht so eignete und mir deshalb auch dauernd weggenommen wurde. Als gar kein Geschenk aufzutreiben war, beschloß meine Mutter, sich von diesem Kamm zu trennen, damit ich wenigstens etwas auspacken konnte. Dazu hatte sie einen Kartoffelkuchen gebacken und eine der kostbaren Kerzen als Lebenslicht in die Mitte des Kuchens gestellt. Beim Aufwachen gab es ein besonderes Ritual: Weil es in dem ungeheizten Raum so bitterkalt war, blieb ich im Bett und mußte die Augen ganz fest zudrücken, bis die Kerze angezündet war. Dann kam die erlösende Aufforderung, sie zu öffnen – und da war eben doch ein Päckchen zum Öffnen, ein Kuchen zum Probieren und das Lebenslicht, die eine Kerze, die bei allen Geburtstagen leuchten mußte, egal wie viele andere noch darum herum brannten! Ich liebte meine Mutter heiß und innig.
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