„Das würde mir auch nichts ausmachen … jedenfalls halb soviel wie jetzt das blöde Landschulheim.“
„Aber es ist nicht blöde, Leona, es ist wunderschön dort in Rabenstein. Es liegt nur etwa achtzig Kilometer von München entfernt in den Voralpen. Ein Tennisplatz gehört dazu, ein geheiztes Schwimmbecken, ein großer, parkartiger Garten …“ Leona hatte sich schon längst die Ohren zugehalten. „Du redest wie ein Werbeprospekt! Laß mich in Ruhe… ich will nichts davon hören.“
„Wie du willst.“ Frau Heuer sah ein, daß es sinnlos war und erhob sich. „Dann lasse ich dich jetzt allein. Aber iß deine Suppe. Sie wird dir guttun.“ Sie ging zur Tür.
„Mutti!“
Frau Heuer drehte sich um.
„Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?“
„Doch, Leona. Ich habe dich lieb und auch deinen Vater. Aber ich habe eingesehen, daß ich falsch gelebt habe. Ich habe mich in den letzten Jahren viel zu sehr dir gewidmet… viel mehr als für dich und für mich und für meine Ehe gut war. Laß mich jetzt mal reden, ja? Das ist nun wirklich keine Schleichwerbung. Es hat sich bei mir immer alles nur um dich und um meinen Mann gedreht. Dadurch mußte ich ihm langweilig werden und zu einer Belastung dazu … und wenn ich noch ein paar Jahre so weitermache, werde ich dir genauso zum Hals heraushängen.“ „Das ist einfach nicht wahr!“ Leona schlug mit beiden Fäusten auf das Bett.
„Sag lieber: Du willst es nicht wahrhaben. Es wird nicht mehr lange dauern und du wirst mit Jungens herumziehen …“
„Das habe ich überhaupt nicht vor!“
„Glaube ich dir sogar. Aber paß mal auf, das ergibt sich ganz von selber. Meinst du, es würde mir so furchtbaren Spaß machen, mir deine Geschichten anzuhören? Oder gar das Gefühl zu haben, daß du Heimlichkeiten vor mir hast?“
„Aber das ist doch alles Unsinn! Mutti, Mutti, kennst du mich wirklich so schlecht?“
„Wir werden ja sehen, wer recht behält. Rabenstein liegt nicht aus der Welt. Wir werden uns gegenseitig besuchen und fleißig Briefe schreiben.“
„Jetzt verstehe ich endlich.“ Leonas Stimme klang tonlos. „Du willst mich also wirklich loswerden … auch du. Du willst… frei sein.“ Sie hoffte inständig, daß die Mutter sich diesen Vorwurf verwehren würde.
Aber Irene Heuer sagte ganz ruhig: „Damit hast du nicht so unrecht, Liebling. Wenn ich jetzt wieder arbeite, möchte ich auch für den Abend Verabredungen treffen können. Vielleicht sogar auch einmal fürs Wochenende. Ich möchte neue Menschen kennenlernen … nicht unbedingt Männer, versteh mich nicht falsch… aber junge Frauen meines Alters.“ Sie lächelte flehend. „Ich weiß, daß ich dir weh tue, Liebling, aber das ist besser, als dich anzulügen.“ Nach einem tiefen Atemzug fügte sie hinzu: „Ich will endlich auch wieder mal an mich denken!“
Damit verließ sie das Zimmer, und diesmal hielt Leona sie nicht zurück.
Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte Leona sich hilflos. Natürlich war es auch früher bei ihr hier und da schon mal zu einer Panne gekommen; sei es, daß sie eine Klassenarbeit verpatzt, ein anderes Mädchen sie angefeindet hatte oder ihr ein Lieblingsspielzeug zerbrochen, ein Lieblingskleid zerrissen war.
Aber immer hatte sie auf den verständnisvollen Trost ihrer Mutter rechnen können, ja, noch mehr, Irene Heuer war sogar immer zum Eingreifen bereit gewesen.
So war sie, wenn in der Schule etwas schief zu laufen drohte, sofort in die Lehrersprechstunde gegangen und hatte guten Wind für Leona gemacht. Lieblingsspielzeug und Lieblingskleidungsstücke waren rasch, oft durch noch schönere ersetzt worden. Frau Heuer hatte auch angeboten, Klassenkameradinnen, die Leona nicht mochten, einzuladen und zu versöhnen. Aber daran hatte Leona selber nichts gelegen, denn ihr waren die anderen Mädchen herzlich gleichgültig.
Jetzt erst, da sie mit ihren Eltern verkracht war, spürte sie, mehr als ihr bewußt wurde, daß ihr eine wirkliche Freundin, bei der sie sich wenigstens hätte aussprechen können, fehlte.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Kummer stumm und verbissen mit sich herumzutragen.
Natürlich dachte sie daran, auszureißen. Aber sie war zu klug, um diese Idee in die Tat umzusetzen. Sie wußte, daß sie wie alle Ausreißerinnen früher oder später bestimmt erwischt werden und dann in einem öden Erziehungsheim landen würde.
Mit ihren Eltern sprach sie nur noch das Nötigste und ging auf keinen der vielen Versöhnungsversuche ihrer Mutter ein. Dabei wußte sie, daß auch das dumm war. Viel vernünftiger wäre es gewesen, sich durch ein herzliches, liebevolles, hilfsbereites Betragen einzuschmeicheln und die Mutter dahin zu bringen, daß sie es am Ende doch nicht über sich brachte, sich von ihr zu trennen.
Aber das konnte sie nicht. Sie war zu tief verletzt und zu sehr enttäuscht.
Nett zu ihrer Mutter zu sein hätte bedeutet, daß sie sich verstellen mußte, und das brachte sie nicht über sich.
Ihren Vater strafte Leona, seit er ihr eröffnet hatte, daß sie ins Internat sollte, mit Verachtung. Für seine gutmütigen Neckereien, mit denen er sie in bessere Laune zu versetzen suchte, hatte sie nicht das leiseste Lächeln übrig.
Merkwürdigerweise schienen sich die Eltern nun, da die Trennung beschlossene Sache war, mit einemmal viel besser zu verstehen. Irene Heuer kränkte sich nicht mehr, wenn ihr Mann erst spät nach Hause kam. Sie hatte so viel zu tun, nutzte jede freie Minute, ihre Kenntnisse als Sekretärin aufzufrischen und auf den neuesten Stand zu bringen.
Tatsächlich kam Peter Heuer jetzt häufig pünktlich zum Abendessen und brachte sogar manchmal Leckerbissen mit, einen Käse, den sie besonders mochte, Oliven oder frische Crevetten. Beide sprachen lebhaft miteinander und machten Pläne für die Zukunft.
Leona fühlte sich ausgeschlossen.
Selbst wenn es etwas Interessantes im Fernsehen gab, zog sie sich frühzeitig auf ihr Zimmer zurück. Sie wollte die Eltern mit ihrer Kälte strafen und tat sich selber viel mehr damit weh.
Bittere Tränen flossen in ihr Kissen, wenn sie die Eltern gemütlich zusammen im Wohnzimmer wußte. Aber in Gegenwart von Vater oder Mutter weinte sie nie mehr. Sie wußte, es würde ihr doch nichts helfen, und sie wollte sich nicht vor ihnen demütigen. Ihr Abgang vom Max-Josef-Stift, dem MädchenGymnasium in München-Bogenhausen, das sie bisher besuchte, war beschlossene Sache.
Aber Leona sprach zu niemandem darüber.
Erst am letzten Schultag vor den Osterferien, als sie sich, wie üblich mit Babsi auf den Heimweg machte, erklärte sie so beiläufig wie möglich: „Du, ich komme übrigens nach den Ferien nicht mehr wieder!“ – Ihre Stimme klang gepreßt, denn es war ihr, als stecke ihr ein Kloß im Hals.
„Was!?“ Babsi riß förmlich vor Erstaunen Mund und Augen auf.
„Hörst du seit neuestem schlecht?“ fragte Leona hochmütig.
„Überhaupt nicht! Bloß … ich versteh es nicht! Zieht ihr etwa weg?“
„Nein. Meine Mutter will wieder arbeiten, und ich komme in ein Internat.“ Leona warf ihr langes Haar in den Nacken. „Nach Rabenstein, falls du schon mal davon gehört hast?“
„Rabenstein? Und ob!“ Babsi machte einen kleinen Luftsprung. „Mensch, wie ich dich beneide! In Rabenstein sind auch Jungens!“
„Für Jungens interessiere ich mich überhaupt nicht!“
„Warum gehst du dann nicht einfach ins Stift? Ich meine … intera?“
Diese Frage war berechtigt, denn zum Max-Josef-Stift gehört ein Internat, in dem ein Teil der Schülerinnen, die von auswärts kommen oder deren Eltern beide berufstätig sind, wohnen. Die Stiftlerinnen dürfen allerdings jedes Wochenende nach Hause, und das war wohl mit ein Grund, warum Heuers gar nicht auf die Idee gekommen waren, Leona dort hinzugeben. Das aber mochte sie Babsi nicht auf die Nase binden.
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