ROMAN
AUS DEM ENGLISCHEN VON SUSANN URBAN
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit
Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch
Litprom e.V. - Literaturen der Welt
Titel der Originalausgabe:
Travellers
© 2019 Helon Habila
© 2020 Verlag Das Wunderhorn GmbH
Rohrbacher Straße 18, D-69115 Heidelberg
www.wunderhorn.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Gestaltung & Satz: Leonard Keidel
Foto Seite 2: © Heike Steinweg
Ebook ISBN: 978-3-88423-637-6
Für Sharon, Adam und Edna
Und für Sue
Vom Reisen gibt’s keine Rast für mich …
Alfred Lord Tennyson, Ulysses 1
Es gehört zur Moral, nicht bei sich
selber zu Hause zu sein.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia 2
1. Buch EIN JAHR IN BERLIN 1. Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
2. Buch CHECKPOINT CHARLIE
3. Buch BASEL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
4. Buch DIE DOLMETSCHER
5. Buch DAS MEER
6. Buch HUNGER
DANKSAGUNG
1. Buch
Wir kamen im Herbst 2012 nach Berlin und anfangs lief alles gut. Wir wohnten in der Nähe eines Parks in der Vogelstraße. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Apotheke, daneben ein Altersheim und ein Waiseninternat, ursprünglich ein Heim für ledige Mütter, die irgendwann weiterzogen und ihre Kinder zurückließen.
Das Internat bestand aus zwei düsteren Gebäuden – das eine deutlich jüngeren Datums – hinter einer hüfthohen Mauer aus Betonziegeln und riesigen Tannenbäumen. Abends tobten die Kinder durch den Park, hüpften auf Trampolinen und spielten Ball, glockenhell durchschnitten ihre Stimmen die kühle Luft. Morgens saßen sie im Hof hinter der Mauer und schnitzten unter den aufmerksamen Augen ihrer Betreuer aus Holzstücken Tiere oder flochten Weidenkörbe. Einmal, als Gina und ich früh unterwegs waren, entdeckte uns einer der Jungen, er war im Alter zwischen acht und zehn Jahren, kam angesaust, lehnte sich über die niedrige Mauer, machte fast einen Purzelbaum darüber, während er uns mit strahlendem Gesicht zuwinkte und „Schokolade! Schokolade!“ rief. Ich wandte den Blick ab, ignorierte ihn. Gina blieb stehen und winkte zurück: „Hallo!“ Wie seine Augen in dem kleinen Gesichtchen immer größer wurden! Überrascht und begeistert rannte er zu seinen Kameraden zurück. Das wiederholte sich jedes Mal, wenn er uns sah, und Gina tat ihm stets den Gefallen, aber ich gewöhnte mich nie daran. Gewöhnte mich weder an das dünne, erwartungsvolle Stimmchen, noch daran, dass die anderen Kinder, ungefähr ein Dutzend, innehielten und ihre gespenstisch ähnlichen Blondschöpfe hoben, mit ihren blauen Augen beobachteten, wie er winkte und „Schokolade!“ rief, als hinge sein Leben davon ab.
Mark lernte ich kennen, als er mit einem von Ginas Flyern in der Hand zu uns kam. „Ich komme deswegen“, sagte er und schwenkte den gelben Flyer, mit welchem Gina für ihre Porträtserie mit dem Titel Reisende echte Migranten als Modelle suchte. Fünfzig Euro pro Sitzung, gesponsert vom Stipendiumsgeld. Ich zeigte in Richtung Gästezimmer, das sie zum Atelier umfunktioniert hatte. Kurz darauf waren ihre Stimmen bis ins Wohnzimmer zu hören, ihre höflich, aber bestimmt, seine fragend, voller Einwände. Gina hatte ihn abgelehnt und ich hätte ihm sagen können, er brauche sich nicht ins Zeug zu legen, sie werde ihre Meinung nie und nimmer ändern. Später, als ich sie nach dem Grund fragte, meinte sie ohne weitere Erklärung, er passe nicht. Wahrscheinlich sah er zu jung aus, war sein Gesicht zu glatt, ohne den Charakter, den nur Zeit und Erfahrung verleihen. Die Woche davor hatte sie eine Frau mit ihrer vierjährigen Tochter gemalt. Während Gina ihre Staffelei aufbaute, wartete die Frau im Wohnzimmer, immer noch in ihrem Wollmantel, einem alten, schäbigen Teil, und als ich sie fragte, ob ich ihr den Mantel abnehmen könne, schüttelte sie den Kopf. Ich wandte mich an ihre Tochter, fragte, ob sie etwas trinke wolle, da zog die Frau ihr Kind näher zu sich heran. Vor zwei Wochen hatte ihr ein Mann, Manu, Modell gesessen, der mir erzählte, in seinem früheren Leben sei er Arzt gewesen, jetzt arbeite er als Türsteher in einem Nachtclub und warte auf die Entscheidung über seinen Asylantrag. Sein Gesicht war faltig, vor der Zeit gealtert, und ich wusste, Gina würde von diesen Falten entzückt sein, jede einzelne ausdrucksstarkes Zeugnis dessen, was er zurückgelassen hatte, der Grenzen und Flüsse und Wüsten, die er durchquert hatte, um nach Berlin zu kommen. Ebenso wäre sie von den Händen der Frau entzückt, mit denen diese den Arm ihrer Tochter umklammerte, rau und trocken, mit eingerissenen Nägeln, höchstwahrscheinlich ruiniert von der Arbeit in einer Hotelwäscherei oder Spülküche.
Mark kam aus dem Atelier und stand vor der Wohnzimmertür, lächelte gequält, in der einen Hand hielt er seine rote Jacke, in der anderen immer noch den gelben Flyer. Gina in ihrem farbbespritzten Overall stand bereits wieder an der Staffelei, tupfte mit zusammengekniffenen Augen an ihrem Gemälde herum.
Ich bot ihm an, mit ihm zur Bushaltestelle zu gehen. Ich hatte den ganzen Tag lesend in der Wohnung verbracht und musste mir die Beine vertreten. Vielleicht tat er mir auch leid, weil er den Weg umsonst gemacht hatte, eventuell machte mich neugierig, dass er anders, an ihm etwas Besonderes war, was wohl auch Gina bemerkt und weshalb sie ihn abgelehnt hatte. Genau diese Ausstrahlung hatte auf mich die gegenteilige Wirkung, weckte mein Interesse. In diesem Moment machte Mark einen deprimierten Eindruck, als hätte er die fünfzig Euro bereits verplant gehabt, fünfzig Euro, die er nun nie zu Gesicht bekommen würde. Ich fragte ihn, ob er schon einmal Modell gesessen habe. Er verneinte. Wer habe das schon, von professionellen Modellen abgesehen, außerdem sei er der Meinung gewesen, sie brauche Leute von der Straße, ganz normale Leute, und er sei doch normal.
Ich ging vor Mark die Treppe ins Erdgeschoss hinunter aus dem Haus. Ich wollte ihn nur bis zur Bushaltestelle begleiten und anschließend, wie schon des Öfteren einen Spaziergang um den kleinen See auf der anderen Straßenseite machen. Doch als wir ankamen, fuhr der Bus gerade los und ich beschloss, mit ihm auf den nächsten zu warten und als der nicht kam und Mark meinte, er wolle zu Fuß gehen, sagte ich aus einer Laune heraus: „Ich komme mit.“ Es war Frühling und im Westen drückte sich die Sonne herum, wollte so gar nicht untergehen, ihre schrägfallenden Strahlen waren für die Jahreszeit ungewöhnlich warm und hell. Perfektes Wetter. Wir mischten uns unter die Menge, die aus der S-Bahn geströmt kam, gingen am Wurststand, an einem erdbeerfarbenen Erdbeerstand vorbei. Die Berliner saßen Eis essend unter Sonnenschirmen. Vor uns kreischte eine winzige, dralle Dame in roter Jacke „Nein! Nein!“ in ihr Handy, während sie auf dem Gehweg auf und ab spazierte, dabei sämtliche Passantenblicke niederzwang. Und je mehr die Leute glotzten, desto schriller wurde ihre Stimme, für einen kurzen Moment war sie berühmt. „Nein, ich weiß es nicht“, schrie sie und sonnte sich in ihrer Prominenz.
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