»Keineswegs«, sagte die Kleine, »der mir die Fahrkarte ausgestellt hat, wird mich auch führen.«
Ich bat das Wolkenjüngferlein, mir etwas von seinen Fahrten zu erzählen. Es war gern dazu bereit, denn es machte gerade eine Ruhepause. »Bruder Wind ist schlafengegangen«, sagte es, »und so haben wir etwas Zeit zum Plaudern. Ach, Waldbruder, es gibt nichts Schöneres als das Reisen. Ich komme aus der Nordsee und habe wochenlang ein vergnügtes Leben geführt, getanzt bei Tag und Nacht. Da kam Mutter Sonne und sagte: Kind, du musst reisen! Dann webte sie mir mit ihren goldenen Fingern ein weißes Kleidchen und zwei leichte Flügel, übergab mir den Fahrschein und sagte: Da steht alles drauf, der Herrgott selbst hat den Schein gestempelt, und nun Glück auf die Fahrt! Jubelnd schwang ich mich empor, und der Wind trug mich mit starken Armen fort.
So ging es über die fetten Weiden des Marschlandes, wo die schweren Kühe grasten und die Holländer mit großen Holzschuhen umhertrampelten; das war lustig. Über viele Dörfer und Städte bin ich gezogen und habe in manchen Schornstein geguckt. Die Hähne auf den Kirchtürmen schauten mir erstaunt nach und wären gern mitgeflogen, aber sie saßen fest. Ich habe sie ausgelacht.
Da sah ich den Rhein mächtig und breit dahinziehen und sah viele qualmende Schornsteine. Ich bin schnell weitergeflogen, denn ich wollte mir mein weißes Kleid nicht rußig machen. Nun bin ich aber über deinem großen Walde und atme ordentlich auf. Er gefällt mir wohl, und es riecht auch so gut hier, aber bleiben darf ich nicht.«
»Wohin geht es denn weiter?«, fragte ich.
»Über das weite, deutsche Land«, sagte das Sommerwölkchen, »ach, das ist schön, mit seinen grünen Bergen und goldenen Feldern und silbernen Flüssen und roten Städtchen! Dann kommen die hohen Alpen. Die solltest du sehen, Waldbruder! Wir ein gewaltiger Marmordom ragt das Hochgebirge in die blaue Luft. Ich war schon einmal dort und freue mich, wieder hinzukommen. Aber kalt ist es dort oben, da werde ich zu Schnee und muss dort eine ganze Weile rasten auf dem höchsten Gipfel, von dem man die weite Welt überschaut.«
»Da wäre ich nicht so gern dabei«, meinte ich, »jedenfalls würde ich mir warme Wollsocken anziehen.«
»Es kommt bloß auf die Gewohnheit an«, lachte das Wölkchen, »den ganzen Winter darf ich dort oben wohnen und sehe die stolzen Adler kreisen und höre die Murmeltiere pfeifen. Im Frühjahr aber mache ich eine Rutschpartie. Heißa, dann geht es mit einer Lawine donnernd zum Tal, das ist ein herrlicher Sport, noch ganz anders als Skilaufen und Telemarkensprung. Ich will mich aber in Acht nehmen, dass ich keine Häuser und Almhütten umreiße. Dann schmelze ich in der Frühjahrssonne, und nun kommt die unterirdische Reise. Ich dringe tief in die dunklen Gründe der Erde und betrachte ihr verborgenen Geheimnisse, das harte Gestein und das schimmernde Erz. Zuletzt komme ich dann in einer Quelle wieder ans Licht. Ach, man freut sich so sehr, wenn man die Sonne wiedersieht!«
»Das kann ich mir denken«, sagte ich, »und da wäre ich auch gern dabei.«
»Du?«, lachte das Sommerwölkchen, »du würdest alle Knochen zerbrechen, denn das geht nicht so langsam und bedächtig, sondern mit allem Mutwillen. Ich springe und schäume von Fels zu Fels und stürze mich turmhoch hinunter. Purzelbäume schlage ich ohne Zahl, und nebenbei gebe ich den Alpenrosen und dem Edelweiß etwas zu trinken.
Der Tessin führt mich dann in den schönen Lago Maggiore. Da stehen die alten Kastanienwälder. Da sind die Städtchen nicht rot wie in Deutschland, sondern weiß. Da glühen die Orangen im dunklen Laub, und die Sonne! Die Sonne ist dort herrlich und der blaue Himmel unvergleichlich. In dem schönen See will ich nach Herzenslust tanzen und will mir auch die wunderbaren Borromäischen Inseln ansehen. Was da für Blumen blühen, kannst du dir gar nicht denken.«
»Bleibst du denn dort?«, fragte ich.
»Bewahre!«, rief das Wölkchen, »bleiben darf ich nirgends. Ich wandere in die blaue Adria und dann nach Süden weiter. Auswendig weiß ich nicht alles, aber es steht auf meinem Fahrschein. Ich komme durch die Meerenge von Gibraltar und soll im Golf von Biskaya einen Seesturm mitmachen. Da will ich aber den großen Wogen tüchtig brüllen helfen. Als Nebel besuche ich die große Stadt London und plage die zähen Engländer ein bisschen. Vielleicht muss ich noch zum Nordpol hinauf, wo die Eisbären hausen. Doch da ist Bruder Wind wach geworden, nun geht’s weiter. Lebe wohl, Waldbruder!«
Das Laub am Baume fing an zu säuseln und zu rauschen. Schnell spannte das Wölkchen die Flügel auf wie weiße Segel, und leicht wie eine Feder flog es davon.
In der
Waldklause
Erlebnisse des Waldbruders im ersten Jahre
Herbst 
Drei Gedichte
Der Färbermeister
Turnfest
Sprit
Herr Storch
Rübezahl
Die Wilde Jagd
Zwergenhochzeit
Vater Sturm
Herbst, du bist der rechte Mann!
Dass man gut spazieren kann ,
Gehst du sacht mit leichten Schritten;
Färbst den Wald mit goldnem Schein ,
Webst Marienfäden ein ,
Und das Laub, das hingeglitten ,
Gibst du als ein Winterbett
All den Würzlein, fein und nett .
Ach, wie bist du wohlgelitten!
Aber lass den Sturm zu Haus ,
Sausebraus, sonst reiß ich aus
Und verkriech mich in die Klaus!
Herr Herbst hat eine offene Hand
Und streut die Früchte übers Land .
Wir sammeln seine guten Gaben ,
damit wir was zu knuspern haben .
Und zieht der bunte Herbst ins Land ,
Dann gilt es sammeln allerhand;
Bucheckern, Nüsse, haufenweise ,
das gibt mir fette Winterspeise .
Heute sollt ihr einen Augenschmaus haben. Kommt, wir steigen diese Anhöhe hinan. Oben öffnet sich eine freie Aussicht, und da habt ihr den Wald vor euch zu Füßen und könnt darüber hinwegschauen. Nun seht einmal das Farbenspiel in Grün, Gelb und Rot und dazwischen die schwarzen Tannen! Der Wald ist niemals schöner als im Herbst. Frau Sonne schaut durch die weißen Wolken und gibt uns die rechte Beleuchtung. Dann wird alles noch einmal so bunt.
Habt ihr es schon gewusst, dass Herr Herbst ein Färbemeister ist? Der Frühling ist von Beruf Gärtner, er pflanzt all die schönen Blumen. Der Sommer ist Koch, er kocht die Früchte reif mit süßen Säften und braucht keine Töpfe und kein Feuer. Frau Sonne geht ihm zur Hand mit ihren warmen Strahlen. Der Gärtner Frühling trägt einen bunten, kurzen Kittel und der Sommer einen schneeweißen, leichten Anzug, wie es für einen Koch passt. Auch eine weiße Mütze, die sehr proper aussieht. Aber der Herbst, das ist ein Mann!
Dieser Tage bin ich ihm begegnet, als ich gerade auszog, um Bucheckern zu sammeln. Frau Eichhörnchen hatte mir eine dicke, runde Buche bezeichnet, die besonders reichlich Frucht trägt.
Wie ich so den Waldweg entlangwandelte und ein Liedchen vor mich hin summte, stieg mir ein sonderbarer brenzliger Geruch in die Nase. Ich blieb stehen und schnüffelte in die Luft und brummte: »Wenn das nicht Rauch von Kartoffelkraut ist, dann will ich kein Waldbruder sein.« Da kam ein behäbiger Mann im Färberkittel mit allerlei Töpfen und vielen Pinseln, kurzen und langen, um eine Webbiegung und rief schon von Weitem: »Gut, dass ich Euch treffe, Waldbruder! Ihr könnt mir die Töpfe tragen. Ich bin schrecklich beladen und habe ungeheuer viel Arbeit zu tun.« Er sprach etwas undeutlich durch die Zähne, denn er hielt eine kurze Pfeife im Munde.
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